20. 08. 2018 - Die Dankesrede

Anlässlich seines 85. Geburtstages blickte Matthias Mander in der Wiener Rupertikirche zurück auf sein bisheriges Leben

 

2. 8. 2018

Kurzbericht über die lange Flussreise auf dem Zeitstrom

Auf dem rechten Ufer entfaltet sich dein Aussenleben, auf dem linken entsteht allmählich das Innenleben. Stündlich fällt dein Blick über die eiligen Wellen auf die beiden Begleitufer. Im Vorüberziehen ändern sich Lichtwinkel und Schattenlinien, Hitze oder Frost, Stille oder Lärm, Förderndes oder Hemmendes, blitzartig schlagen Ereignisse ein, aber auch der Anschein von Langsamkeit bleibt verlässlich. Vorbeidrehende Gegebenheiten sind stets neu einzuwerten. Nicht nur die Erscheinungsflucht wird ständig neu, auch deine Augen, deine Maßstäbe, deine Diskontierungszeiten sind im sprichwörtlichen Fluss. Woran vom äußeren Zeitflussufer erinnerst du dich?

Die Zweizimmer-Küche-Wohnung im ersten Stock der Grazer Josef-Huber-Gasse mit dem praktischen Lebensmittelgeschäft im Parterre, in das du Däumling oft geschickt wurdest und einmal statt mit Butter mit zwei frischen Kipferln zurückhinauf kamst? Oder das nächtlich bedrohliche Radiogebrüll einer tödlichen Stimme, nur von zackigen Marschhymnen unterbrochen? Die davor verstummten Eltern in der Küche draußen glaubten, du schläfst. Später Vati und Mutti abwesend, Unruhe und Spannung, Nachbarinnen versorgten dich linkisch. Dann brachte Vati dich zu seiner Schwester nach Lebring bei Leibnitz, ein Bauerndorf in hügeliger Murlandschaft. Viele gutmütige Nachbarn, stets ansprechbar wie Familienmitglieder. Und das dortige Stromkraftwerk an der Mur, in dessen Mechanik dich ein freundlicher Maschinenwärter mehr als gründlich einwies  – das Gebäude an der Schleuse nach dem edlen Backsteinrot plötzlich dunkelgrün gestrichen, Ziel mehrerer Tieffliegerangriffe… Nach dem Überleben in der Hauptkampflinie an der Mur – die Sprengung der Murbrücke beschädigte die Uferkeusche der Tante schwer. Nach der Heimkehr des abgezehrten Vaters noch ein paar prägende Grazer Schuljahre an der dortigen HAK mit bemühten Lehrern in armseligen Uniformresten … Hunger-, Kälte- und Notzeiten.

Es folgen am rechten Lebensflussufer bizarre Industrielandschaften, provisorisch überdeckte Hallenruinen, schwere 58-Stunden-Arbeitswochen, Wiederaufbau-Improvisationen, Material- und Energiemangel, jahrelange Rechtsunsicherheit. Die Aussenlebenkulisse wechselt nach Wien - Notwerkstätten an der Engerthstraße, technische Bravourleistungen an großen Werkstücken, die nur aus der Montagehalle transportierbar waren, indem der Hallenboden unter dem Außentor abgegraben wurde. Staatsvertrag. Du warst am 15.5.1955 mittags im Belevederepark und abends vor dem Schloss Schönbrunn zum feierlichen Empfang für die Signatarmächte. – Einsatz zur Übernahme der beiden Waagner-Biro-Fabriken in Stadlau – Maschinenbau und Gießerei. Der alte Oberbuchhalter dort weinte vor Angst, dass er nun wegen der jahrelangen Bilanzbeschönigung, die er auf Befehl des russischen Militärdirektors vorgenommen hatte, durch die neue österreichische Verwaltung bestraft werde. Du konntest ihn beruhigen… Die dortigen Löhne wurden nach deinem Antrag über Nacht auf Anordnung des Bundeskanzlers Raab verdreifacht und dem westösterreichischen Niveau angepasst. – Es folgen Jahrzehnte sich beschleunigenden und vollendenden Wiederaufbaus: Kraftwerke, Brücken, Verkehrsbauten, Kulturstätten: Burg, Oper und erstmals grosse Exporterfolge. - Schließlich für die eigene Familie das Häuschen in Gerasdorf und für die Firma der neue Hochhauskomplex in Stadlau für Konstruktionssäle und Verwaltung. Dieses Aussenleben mit vielen imponierenden Kolleginnen und Kollegen erfüllt kräftig das rechte Ufer deines Zeitflusses. Und in Gerasdorf, dem bleibenden Wohnort zwischen Großstadt und Weinviertel, entstand unter dem tüchtigen Bürgermeister ein Kulturzentrum – Stätte vieler persönlicher Begegnungen. Dazu viele nicht remunerierte Gemeinschaftsdienste.

 

Das linksseitige Zeitflussufer bietet nicht die hochragenden Fabriksbauten und Werksgelände, die dramatischen Wochenfluchten harter Arbeitseinsätze, nicht die komplizierten Kalkulationszumutungen und Konflikte, nein, linksseitig strömt der Zeitfluss die hochherzigen Jugendjahre den Vorgaben frommer familiärer Vorbilder entlang. Der Landpfarrer Onkel Franzl, seine den Haushalt führende Schwester, zugleich deine Ziehmutter, der fleißige österreichtreue und kirchentreue Vater, die Erklärungen zum Tod der Mutter, das eifrige Lesen in Onkel Franzls nachgelassenen Büchern; später die eindrucksvollen Fabriksvorgesetzten und Einsatzvorbilder im Wiederaufbauheldenzeitalter der Wiener Großbewährung. Das Innenleben des linken Lebensflussufers gewann Farbe durch viele hierüber selbst verfasste Erzählungen für das Radio Graz, selbst gelesen unter der Leitung von Dr. Alfred Holzinger. Schließlich zwei Romantrilogien – die Erz-Blech-Chemie Trilogie bei Styria und die Garanastrilogie bei Czernin. Die höchstkompetente Freundschaftlichkeit der Theaterleitung Gerald Szyszkowitz` und Michaela Ehrensteins sowie aller Mitwirkenden der Freien Bühne Wieden, die von dir vier Dramen erfolgreich aufgeführt hat, schenkte packende Kunsteinblicke.

Das linke Ufer ist eine Abfolge der Versuche mit deinen geringen Möglichkeiten den geschenkten Einsichten Form zu geben. Die Mühe ist verbrieft, ein Erfolg kaum herzuleiten. Dennoch ist aus den linken Flussbegleitfeldern ein inneres Erntefeld geworden.

 

Das Aussenlebenufer hat an Wichtigkeit abgenommen, das Innenlebenufer begleitet mit zunehmender Sichtschärfe die Flussreise. Dank für so viel familiäre Liebe und kollegiale Hilfe, für die Sicherung durch den österreichischen Sozial-, Rechts- und Kulturstaat; Franz Schuberts Lied aus 1817 „An die Musik“ mit seinem „Dank an die Kunst“ fällt dir ein. – Dank an Wohltäter aus 85 Jahren, seit das Floß im Zeitstrom fährt. Es trägt viele Geschenke lebender und gestorbener Mitmenschen. In der Innenwelt wirken alle weiter, verweisen aufeinander, unterweisen dich.

 

Am linken Flussufer steht heute quasi eine Kathedrale voll Bildern, Denkmälern, Schlüsselszenen, Stimmen, vielen lieben Gesichtern. Alle diese Bestärkungen helfen, das Leid, das unsere Erde überzieht, ohne geistige Verstümmelung zu ertragen. Ungeheure Bildungs-, Ordnungs-  und Moraldefizite erdrosseln die Weltgemeinschaft. Keinen Augenblick können wir uns vom tätigen Mitleid abwenden.

Die Innenwelt birgt Letztgültiges. Über die Grenze des Sagbaren hinaus. Auch wenn es an Gesprächspartnern zuweilen mangelt. Das ist die gehorsam hinzunehmende Regel dieser großen Flussreise. Doch Tragfähiges erweist sich über den Fluten: Vor vielen Jahren fiel wie nebenbei im Gespräch mit dem lieben Franziskanerpater Willibald sein Wort „Im Dienst Gottes zu Staub werden“ – mehr Wahrheit gibt es nicht.

Und noch eine letzte Regel bestimmt die Fahrt auf dem Zeitstrom zwischen Aussen- und Innenwelt: Das Floß ist schneller als der Fluss! Physikalisches Gesetz!

Das gibt für immer zu denken. Dein Floß übergleitet deinen Fluss aus der Zeit hinaus. Es befreit sich und dich vom Zeitlichen.




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