Haarmann - Ein Kriminalroman. München 2020

von Dirk Kurbjuweit
Rezension von E X T E R N

Ausgangpunkt dieses Buches ist ein realer Kriminalfall der frühen zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts, und der aus dem Journalismus kommende Autor hat sich bei seinen Recherchen auf verlässliche Quellen berufen können und zum Beispiel nicht auf die umfangreiche zeitgenössische Presseberichterstattung vor allem in Deutschland und auch in Österreich zurückgreifen müssen, was von Nachteil, aber auch von Vorteil gewesen ist. Denn die Reportagen und Analysen, die auch von Kriminologen, Psychiatern und Sozialhistorikern in lokalen und regionalen Blättern in bedeutendem Ausmaß veröffentlicht wurden, hätten durchaus zu einer vielfältigeren Einsicht in den Fall Haarmann geführt, andererseits liegt der Vorteil im Zeitgewinn für die eigenen Absichten, verkürzt somit die Arbeitszeit auf Kosten der Überprüfbarkeit der Quellen.

Warum ich das hervorhebe: Mit der Hauptquelle des Autors, nämlich Theodor Lessings „Haarmann. Geschichte eines Werwolfs“, ist das so eine Sache. Lessing begleitete den Prozess gegen den Massenmörder von Hannover mit der Besessenheit eines linken Weltverbesserers in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, also in der frühen Phase der Weimarer Republik, in der es praktisch an allem mangelte und somit radikalen Ansichten von Links und Rechts Nahrung geliefert wurde. In Österreich ging das Gespenst um, als durch die Pariser Friedensverhandlungen „kastrierter“ Staat nicht überleben zu können.

Die ideologischen Ansichten des jüdischen Philosophen und Publizisten Theodor Lessing, der 1938 im Marienbader Exil als frühes prominentes Opfer der Nazis erschossen wurde (die drei Mörder sollen angeblich nicht zur Rechenschaft gezogen worden sein) waren Voraussetzung für seine Aufnahme in den Kreis von 14 Autoren, die der Berliner Verlag Die Schmiede unter der Leitung von Rudolf Leonhard eingeladen hatte, für die neue Buchreihe „Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart“ Beiträge zu liefern (mit dabei waren etwa Alfred Döblin, Egon Erwin Kisch, Ernst Weiß, Iwan Goll und als Außenseiter wurde zum Beispiel Mörder, Hochverräter, Anarchisten, notorische Betrüger, Hochstapler, politische Extremisten und Verantwortliche für Fehlentscheidungen der Justiz gesehen). Das Verlagsunternehmen war allerdings noch breiter angelegt, wurde aber durch den alsbaldigen Bankrott der Schmiede jäh beendet.

Lessing stand als Verfasser des Buches „Der jüdische Selbsthaß [!]“ im ständigen Konflikt mit der bürgerlichen Presse ebenso mit der Gelehrtenwelt an den Universitäten. Schlussendlich wurde ihm auch die venia legendi entzogen.

Der einstmals sehr bedeutende Kulturpublizist Bruno Frei hat mir 1981 brieflich die Zusammenhänge zwischen Verlag und Autoren erläutert und dabei auch auf die Sturheit des Theodor Lessing hingewiesen.

Dirk Kurbjuweit hat sich also an Lessings Darstellung dieses grauslichen Falls mit circa zwei Dutzend bestialischen Morden an sozial benachteiligten Jugendlichen orientiert, im Wesentlichen den Prozess gegen Haarmann geschildert. Wieweit die im Anhang genannten „Haarmann-Protokolle“ von Michael Farin und Christine Pozsár eine Rolle gespielt haben, bedarf noch einer Kontrolle meinerseits.

Kurbjuweit spannt einen Bogen von den Unzukömmlichkeiten der polizeilichen Ermittlungen (Haarmann wurde ja mehrfach verdächtigt, aber lange Zeit nicht überführt) über den Prozess selbst bis zum Todesurteil, das 1925 vollstreckt wurde.

Ein zentrales Bedürfnis des homosexuellen Triebtäters waren die Vergewaltigungen, die Tötung der Opfer durch Bisse in den Hals, der anschließende Blutrausch, die fachmännische Zerstückelung der Leichen und – was diesen Fall noch zusätzlich unerträglich macht – die Vermarktung der Leichen als Schweinefleisch, die Beseitigung der Knochen durch Versenkung in den städtischen Fluss Leine und der Handel mit den Habseligkeiten der bedauernswerten Opfer.

Somit ist Kurbjuweits Buch doch eher ein dokumentarischer Text und kein Kriminalroman, was selbst durch den Einbau des fiktiven Ermittlers Lahnstein nicht so recht gelingen will, auch wenn er mit dieser Figur sich selbst Gelegenheit gibt, kritische Sichtweisen auf die Zwanziger-Jahre zu werfen und die Spannungen innerhalb der Ermittlungsbehörden aufzuzeigen. Die in Kursivschrift gehaltenen Passagen am Beginn der neun Kapitel schweifen doch manchmal sehr von den Schilderungen des Falles ab.

Seit meiner ersten Beschäftigung mit Haarmann sind Jahrzehnte vergangen. Literatur über den Fall gibt es genug: Mehrere tausend zeitgenössische Presseberichte (einfach ANNO googeln), Alfred Hrdlicka hat mit einer Plastik in Hannover für große Empörung gesorgt, aber auch tolle Grafiken geliefert, der Film der „Der Totmacher“ wurde mehrfach ausgezeichnet und mit ihm Götz George (sein Nuscheln müsste man mögen!)

Der Lektüre von Kurbjuweits Haarmann-Buch verdanke ich Hinweise auf neue Literatur zum Fall und auf Stoffbearbeitungen. Somit ist zumindest mein Interesse nach Jahrzehnten wieder erwacht.

 

© Peter Adacker, A-8650 Kindberg




Zurück zur Übersicht