Der Koffer der Adele Kurzweil

von Manfred Theisen
Rezension von W. Mayer-König

Clio Verlag, Graz 2018, 240 Seiten, gebunden,

ISBN : 978-3-902542-59-5

 

Kommt man am Wohnhaus Schröttergasse 7 in Graz vorbei, stößt man auf einen Stolperstein mit der Inschrift „Hier wohnte Adele Kurzweil Jg.1925 Flucht 1938 Schweiz/Frankreich Interniert Drancy Deportiert 1942 Ermordet in Auschwitz“. Hier findet sich trocken und knapp eines der grausamsten wie berührendsten Schicksale zusammengefasst, wie es vielen jüdischen Kindern und Jugendlichen widerfahren ist. 1991 wurde auf dem Dachboden einer Polizeistation in Auvillar ein Zufallsfund entdeckt: ein Koffer voll mit anmutigen Zeichnungen und Modeskizzen, angefertigt vom 17 jährigen Mädchen Adele Kurzweil, und oben auf liegend ein Zettel mit dem kurzen handschriftlichen Text: „Ich heiße Adele, sucht mich nicht, ich existiere nicht, ich existiere nicht mehr. Ich heiße Adele, 17 bin ich, 17 Jahre für immer, 17 Jahre für die Ewigkeit“. Die Wirklichkeit dieser Worte ist so ungemein stark, dass es keiner erfundenen Rahmenhandlung bedurft hätte, wie sie der Autor für sein teils belletristisches teils faktenorientiert sachliches Buch wählt. Die Wirklichkeit ist stets aussagekräftig genug, und braucht nicht mutwillig spannend oder aktuell gemacht zu werden. Vergangenem mit erfundenen Rahmenhandlungen die Chance zu geben, in der Lebenswelt des heute lebenden Lesers verankert zu werden, kann deshalb rasch fehlschlagen, weil das Grauen länger nachwirkt, als man es zu verdrängen glaubt. Eine erfundene Rahmenhandlung bleibt also in der Regel hinter der literarisch gekonnten, und nicht mutwillig kostbar gemachten, Wirklichkeit zurück. Manfred Theissen hat sich in verdienstvoller Weise der Spurensuche von einigen Grazer Jugendlichen angeschlossen und sie sich nutzbar gemacht, als sie im Jahr 2000 nach Montauban aufgebrochen sind, um den Schicksalsweg Adeles nachzuzeichnen. Ergebnis war eine Ausstellung und zwei Bücher verschiedener Autoren. Vor allem bei der Rahmenerzählung ist einerseits die Sprache literarisch nicht ganz ausgereift, andererseits fehlt der Beschreibung von Mara und Philipe entsprechende psychologische Tiefe. Weder die seelischen Vorgänge noch die Handlungszusammenhänge sind schlüssig ausgestaltet, umso mehr müssen sie hinter das selbstredende und selbsterklärende sprachliche Gewicht des Faktischen, also der Tatsache zurücktreten. Auch die Darstellung der Liebesbeziehung zwischen Mara und Philipe ist kraftlos und nicht im Stande, Anteilnahme beim Leser zu erreichen. Die stilistische Dichte wechselt mehrmals während des Buchinhaltes. Vor allem wird auf den letzten fünfzig Seiten der Ton eines Kriminalromans angeschlagen, und obschon sich das restlos erschütternde  Ende einer hoffnungslosen Wirklichkeit abzeichnet, verzettelt sich der Autor in einer flachen, geradezu aufgesetzten Sprache. Dem Autor Theisen, Jg.1962, der sich mehrere Jahre in der Sowjetunion aufhielt, und dann in Äthiopien eine Entwicklungshilfe-Organsisation leitete, hätte man, vor allem auf Grund vorauszusetzender Lebenserfahrung, mehr sprachliche Immaginations- und Vermittlungsfähigkeit zugetraut, zumal die Fakten und Tatsachen der Geschichte von Adele Kurzweil, sich wie ein elektrischer Schlag an den Leser weiterleiten könnten. Was viel zu wenig behandelt wurde, ist die Auswirkung der „Nürnberger Rassengesetze“ und der „Wannseekonferenz“ auf das jüdische Einzelschicksal; die pädagogisch und human pionierhaften Hilfeleistungen Ernst Papaneks im Heim für jüdische Flüchtlingskinder; die Täuschung des Vertrauens in die von Petain proklamierte Souveränität Frankreichs; die nicht rasch genug ausgestellten, rettenden Visas, um Razzien und Deportationen zuvorzukommen; das zwar ausgestellte, aber von den Behörden in letzter Sekunde wegen Überbelegung behördlich verweigerte Affidavit durch Nelson Morris - alles also unüberbietbar spannende, weil wirkliche Ereignisse, die in diesem Buch weitgehend literarisch unbearbeitet und daher ungenutzt bleiben. Was vor allem jedoch diesem Buch empfindlich fehlt, ist die Beschreibung dieser auch in Gaskammern nicht zerstörbaren jugendlichen Zartheit zu begegnen, über die nach gleich welcher bestialischen Befriedigung der Todesschergen, niemand, nie und nimmer Herr werden konnte. Weil da etwas war, was über sie hinausging, nämlich das nachhaltig ergreifende Schicksal der Jugend.

Das Buch eignet sich für Jugendliche ab dem 15. Lebensjahr, ist aber vor allem wegen anhaltender Stilbrüche und versäumter Möglichkeiten für anschaulichen Geschichtsunterricht nicht besonders nachdrücklich zu empfehlen.

 

Wolfgang Mayer König




Zurück zur Übersicht