Rezensionen und Lesetipps
An dieser Stelle weisen wir Sie auf Bücher hin, die auf verschiedensten Wegen zu uns gefunden haben.
Vielleicht können wir mit unseren Besprechungen Ihr Interesse wecken, sie ebenfalls zu lesen.
Rezensionen eingrenzen
Nichts wird so bleiben, wie es war?
von Ulrike GuèyrotRezension von Hans Bäck
Molden Verlag
ISBN 978-3-222-15062-3
Unwillkürlich fragt man, warum noch ein Buch, ein Artikel, ein Essay, das sich mit der Zeit nach Corona beschäftigt? Beiträge, mehr oder weniger klug und fundiert, manche an den Haaren herbeigezogen in den Schlussfolgerungen, etliche lesenswert, werden täglich neu auf den Tisch gelegt.
Und nun das schmale Buch aus dem Moldenverlag der Autorin, die u. a. Professorin an der Donau-Universität Krems ist. Auf knapp 100 Seiten reißt sie die Probleme Europas schonungslos auf. Nicht erst seit Corona, die Wurzen liegen tiefer. Die Frage wird aufgeworfen, ob es nicht höchst an der Zeit wäre, die europäische citicenship zu aktivieren und die Artikel 17- 22 der EUV endlich ernst zu nehmen. Damit würden viele zusammenhängende Aufgaben plötzlich virulent: Die europäische Arbeitslosenversicherung, die europäische Sozialgesetzgebung, die europäische Mindestsicherung und vieles mehr. Das ist so viel, dass es den Eindruck erweckt, es würde noch 20 Pandemien brauchen, um all dies zu realisieren. Doch halt! Die Autorin sieht Wege, Möglichkeiten, da voran zu kommen. Und sie zeigt auch auf die beharrenden, die bremsenden Politiker, sie teilweise sogar beim Namen nennend. Schön und gut, Utopien werden gebraucht um Realitäten zu verändern, das war schon in den Anfängen der Europäischen Einigung so und wird es auch in Zukunft so sein. Die aufgezeigten „Utopien“ sind, wenn man das Plädoyer Guèrots verfolgt, gar nicht so unglaublich und realitätsfern. Es bedürfte nur einiger Kleinigkeiten, wie beispielsweise, das Zurückstellen der nationalen Interessen im Rat, in der Kommission, im Europäische Parlament und stattdessen mehr europäisch zu denken. Das allerdings, so der Befund der Autorin, ist derzeit in weite Fernen gerückt. Doch sie gibt die Hoffnung nicht auf, im letzten Kapitel entwirft sie eine Möglichkeit, die bestechend erscheint – der europäische Bürger wird wach und mündig und nimmt dieses Europa in die Hand, es entsteht nicht eine ‚karge EU, sondern eine wirkliche europäische Gemeinschaft.’ Spätestens an dieser Stelle stockt die bisher vorbehaltslose Zustimmung des Rezensenten. Als „Spätgeborener“ (Jg. 1940) wurde die Entstehung Europas miterlebt und da ist die Erinnerung vorhanden, dass von Anfang an nicht die Bewegung von „unten“ vom Bürger, vom „Volk“, vom Wähler kam. Es waren ganz einfach „weise alte Männer“ rechts und links des Rheins, die Taten setzten. Und nun ist eine weitere Bemerkung des Rezensenten fällig: Es ist ärgerlich und störend beim Lesen die blöden * in Wörtern wie Bürger*innen, Europäer*innen vorzufinden. Was soll das aussagen? Die Frauen unserer Gesellschaft haben es doch nicht mehr notwendig so verballhornt aufzuscheinen! Ich wiederhole daher mit einem gar nicht wertfreien Unterton: Das Europa, wie wir es bis heute erleben durften, wurde von weisen alten Männern erdacht und geschaffen. Und es ist leider eine Tatsache, dass die größten Probleme der heutigen Union auf zwei Sätze von zwei Frauen zurückzuführen sind: Der erste Satz: „I want back my money!“ Damit hat Magret Thatcher für alle Zeiten den nationalen Poker um Eigenheiten, Eigenständigkeiten, um eigene Wege eröffnet. Und der zweite Satz war nicht minder verhängnisvoll: „Wir schaffen das!“ Fr. Merkel hat sich dadurch die AfD in den Bundestag geholt, die Rechtsextremen in ganz Europa aufmunitioniert, das Entstehen von Parallelgesellschaften nicht nur in den deutschen Großstädten ermöglicht. Ja, auch die Sonderwege von Polen und Ungarn gefördert oder zumindest realisierbar gemacht. Natürlich, bei diesen Staaten kommt noch dazu, das durch die Überheblichkeit der jungen, europäischen Eliten, deren Wahlenthaltungen (wozu sollen wir wählen gehen?) genau jene Kräfte die Überhand bekamen, die heute und in den nächsten Jahren das Europäische Projekt erschweren werden. Es gibt zu viele Baustellen in und bei Europa, dass es nach Ansicht des Rezensenten nicht genügen wird, mit der Europäischen Bürgerschaft das alles beheben zu wollen. Da wird unendlich viel und harte Arbeit notwendig werden, wenn die Corona-Pandemie dazu einen Anstoß geben kann, sollten wir einigermaßen zuversichtlich den nächsten drei Jahren entgegenblicken können. Und hoffen, dass es wieder ein paar weise alte Männer (und durchaus auch Frauen) gibt, welche die Utopien mit der notwendigen Pragmatik angehen. Und da bin ich zuversichtlich, dass auch die Jungen Europäer dies erkennen und mitmachen. Es ist ja deren Europa!
Hans Bäck
Politiker in drei Hinsichten
von Reinhard GrossmannRezension von Hans Bäck
Roman
Elbaol-Verlag Hamburg
ISBN 978-3-939771-81-4
Diese Rezension muss ich ein wenig anders beginnen, als dies normalerweise der Fall ist.
Es war eine Lesereise von Mitgliedern des Europa Literaturkreises Kapfenberg u. a. nach Hamburg und Schleswig Holstein. In der wunderschönen Landeshauptstadt Kiel setzte sich eines Vormittags ein kleiner, älterer Herr zu uns, stellte sich als der Autorenkollege Reinhard Grossmann vor. Wir sprachen über Literatur, die Probleme der Schreibenden, über Gott und die Welt. Am Abend bei der Lesung im Literaturhaus Kiel sorgte Reinhard mit seiner Teilnahme für eine erhebliche Vergrößerung der Besucherzahl! Jedenfalls, wir haben einander kennen gelernt, Gefallen und Sympathie gefunden. Durch die Entfernung, Kiel ist von der Obersteiermark aus gesehen doch am anderen Ende der Welt, blieben die Kontakte aber spärlich. Es gab hin und wieder etwas zu lesen – vor allem von Reinhard. So, und nun legt er ein neues Buch vor, und siehe da, auf der Seite 253 ist eine Bibliografie abgedruckt, die zeigt, wie fleißig Reinhard in all den Jahren war. Nein, nicht in all den Jahren, die Bibliografie setzt ein mit dem Jahr 2010, also hatte der Autor damals bereits 76 Lebensjahre „hinter sich“. So betrachtet, ist das Pensum enorm!
Wie gesagt, einzelne Erzählungen des Autors waren bekannt, hatten wir gelesen, auch im Reibeisen abgedruckt. Daher war die Spannung groß, seinen insgesamt vierten Roman (alles seit 2010!!) zu lesen.
Soweit einmal eine unkonventionelle Einleitung zu einer Rezension.
Der Lebenslauf eines Politikers wird nachgezeichnet. Erst einmal aus der Erzählperspektive des Schulfreundes, der den Politiker von der Sandkiste an begleitet und erlebt hatte. Ein wenig denkt der Rezensent bei der Schilderung an Machiavelli, so wie der Politiker seinen Aufstieg minutiös plant. Es ist natürlich zu überlegen – und bei der Lektüre stellt sich diese Frage mehrmals – ob sich eine politische Karriere so genau planen und umsetzen lässt. Das ist so gestaltet, dass ein Schritt zwangsläufig den nächsten nach sich zieht (ziehen muss). Dieses Kapitel ist übertitelt mit „Der Regierungschef“ also darf dem Leser verraten werden, dass der geschilderte Politiker sein Planungsziel erreicht. Dabei ist aber nicht zu erwarten, dass tiefvergrabene Erkenntnisse, Geheimnisse aus der Niederungen der Hohen Politik verraten werden. Der Autor war selbst einige Jahre als Regionalpolitiker tätig, es hätte ja sein können, dass er diesen Roman zum Anlass nimmt um „auszupacken“. Reinhard Grossmann wählt eine ganz andere Lösung für den Roman-Verlauf. Der Politiker, inzwischen Regierungschef und Schwager des Schulfreundes/Autors entscheidet sich anlässlich einer Geburtstagfeier zum Fünfziger, einen ganz anderen Weg zu gehen. Mit einem unglaublichen Programm zur Änderung der Mobilität stößt er alle vor den Kopf. Doch wie diese Entwicklung weitergeht, wie sich die Situation zuspitzt, das verrate ich nicht, das sollen Sie, liebe Leser, selbst erkunden.
Der zweite Teil des Romans schildert den Lebensweg aus der Sicht der Tochter. Krampf- ja fast zwanghaft bemüht sie sich, nicht als DIE Tochter des berühmten Vaters zu gelten und allein, aus eigenem Können, mit eigenen Methoden, ihre Lebensaufgabe zu erfüllen. Die sie dann aber doch wieder in der Nachfolge des Vaters sieht. Die Politik von der wissenschaftlichen Seite her beeinflussen, Ergebnisse auf diese Weise erzielen? Der Abnabelungsprozess dauert an, wird auch durch die Gesellschaft immer wieder verzögert, - „ach Sie, die Tochter des früh verstorbenen Ministerpräsidenten“ – doch es gelingt ihr letztlich doch. Klar, die Zeit geht weiter und vergeht, und es kommt jene Phase wo der Name des Vaters nur noch ein ferner Nachklang ist. Spannend, wie die Mutter in das nun auch politische Leben der Tochter nicht eingreift.
Und erst in der nächsten Generation, im Enkelsohn gelingt anscheinend die komplette Abwendung von der Politik, wenn man davon absieht, dass dieser Enkelsohn als Komponist politische Musik im Stil von Johann Sebastian Bach schreibt.
Reinhard Grossmann hat einen Roman vorgelegt, der einen großen Zeitrahmen umfasst und daher auch zeitgeschichtlich gesehen werden könnte. Natürlich steht die politische Betrachtung der handelnden Personen im Vordergrund des Geschehens und doch sind die menschlichen Aspekte, die Zwischen-Schichten schön geschildert. Vielleicht geht an einigen Stellen der Autor zu rasch wieder an den Hauptstrang der Erzählung zurück, während der Leser lieber bei Schilderungen des Umfeldes verbleiben möchte, doch ist das Ansichtssache des Rezensenten. Dessen Restfrage bleibt unbeantwortet, ist es in der realen Politik, im harten politischen Tagesgeschehen tatsächlich möglich, eine Karriere so exakt zu planen und durchzuführen, wie es die Hauptperson des Romans, der Frank Welzin geschafft hat? Doch das ist das Vorrecht der Autoren, so etwas auch zu erfinden. Und ich finde es ist ganz gut erfunden.
Hans Bäck
Kinderbomber, Moorsoldat
von Christine TeichmannRezension von Hans Bäck
Roman, Edition Keiper
ISBN 978-3-903322-15-8
Eine Geschichte wird erzählt, die ihren Ausgang in „fernen Zeiten und in fernen Landen“ nimmt, dann urplötzlich in eine gerade erst zurückliegende Vergangenheit mündet. 1933 wird der 17 jährige Jung-Kommunist Emil-Manoli Fischer ins KZ Börgermoor im Emsland inhaftiert. Er erlebt die „Geburt“ des Liedes der Moorsoldaten, kommt frei, zurück nach Österreich, wird zwangsläufig „Ostmärker“, an die Ostfront einberufen, gerät in sowjetische Gefangenschaft, lernt den kommunistischen Lagerterror genauso kennen wie Jahre zuvor den faschistischen im KZ. Verbringt seine letzte Lebenszeit in einem Alten- und Pflegeheim. Dabei begegnet er einer Mutter zweier Kinder: Marlies mit dem 17 jährigen Theo und der 13 jährigen Claudia. Marlies ist an MS erkrankt und wir können/dürfen miterleben, wie die Schübe ihre Lebensumstände zusehends verschlechtern. Und dabei wäre gerade jetzt die Anwesenheit der Mutter in der Familie so notwendig. War es doch immer sie, welche die Familie zusammengehalten hat, dafür sorgte, dass die Kinder ordnungsgemäß linkslink erzogen werden. So auf die Art: Das wird erwartet, das ist notwendig. WARUM das notwendig sei, wird nie hinterfragt. Daher dauert es nicht lange bis der Sohn Theo in der Schule Stunk macht, „Kanaken“ verprügelt, mit schweren Stiefeln und Kurzhaarschnitt auftaucht. Der Vater, sehr klischeehaft, ist total beschäftigt, hastet von einer Baustelle zur anderen, hat ständig damit zu tun, dass dort nie etwas so klappt wie es soll und geplant war. Telefonate mit dem Sohn eigentlich unmöglich, denn entweder in einer Besprechung oder auf der Fahrt. Wie soll der Vater auf den Sohn einwirken, seine schulischen Fortschritte überwachen, beaufsichtigen? Unmöglich, dazu war immer die Mutter da, doch jetzt, nach einem neuerlichen Schub? Und diese im Heim, mit dem uralten Emil/Manoli im Gespräch über KZ, Kommunismus, verlorene Jugend.
Theo wird vereinnahmt, kommt mit gut organisierten Rechten in Kontakt, die ihm eine Art Zuversicht zu geben scheinen, so lange er für diese nützlich sein könnte. Versuche der üblichen Institutionen dem Jungen eine Hilfe zu geben, scheitern fast erwartungsgemäß kläglich. Schuldirektor, Schulpsychologen, Mediatorin, letztlich auch der Versuch der Mutter den alten Emil/Manoli einzuschalten, als Zeitzeugen womöglich, wohin das führen könnte, selbst die Versuche der Schwester scheitern. Bis auf den Einfluss der neuen Gönner und Förderer. Es kommt was kommen musste: Theo wird verwendet um ein Bombenattentat auszuführen. Stümperhaft, gar nicht professionell, sodass die U-Haft die logische Folge ist. Nein, der Rezensent verrät nichts weiter, es soll ja dem Leser auch noch eine Spannung verbleiben. Interessant ist die Einbindung des uralten Moorsoldaten als hilfloser Versuch der Mutter, den Sohn damit auf den Weg zurück zu bringen. Die Geschichte der Moorsoldaten ist sehr gründlich recherchiert, spannend geschrieben, lesenswert.
Im Ganzen gesehen, eine aktuelle Beschreibung, wie das Umfeld in der Lage ist, junge Menschen mit den besten Voraussetzungen, so zu beeinflussen, dass von sämtlichen gutgemeinten Erziehungs-Ansätzen der Mutter nichts mehr übrig bleibt. Interessant auch eine Schlussfolgerung, die dem Theo in der U-Haft offeriert wird: „Das ist ein Angebot, das du überhaupt nicht verdienst. Du kannst unsere Großzügigkeit kennen lernen, aber du kannst es auch drauf ankommen lassen, unsere Macht zu spüren.“
Auf Seite 208 schildert die Autorin eine Situation, die sie womöglich herauf zu ziehen verspürt, die aber wahrscheinlich so doch nie Realität wird. Doch davon waren die alten Kommunisten auch überzeugt.
Hans Bäck
Sie packen aus - Frauen im Kampf gegen die Mafia
von Mathilde SchwabenederRezension von Hans Bäck
Molden Verlag
ISBN 978-3-222-15056-2
Neun Reportagen von Frauen, die sich gegen die Mafia zur Wehr setzen. Geschrieben von der langjährigen ORF-Korrespondentin in Rom, nach ihrem 2014 erschienenen Buch „die Stunde der Patinnen – Frauen an der Spitze der Mafia Clans“ findet sie nun jene, die sich zur Wehr setzen. Nicht nur zur Wehr setzen, sondern sich ganz bewusst im Kampf gegen das organisierte Verbrechen engagieren. Sei es als Politikerin, als leitende Polizistin, Kronzeugin, Anwältin...
Und als langjähriger Süditalien-Besucher stürzt sich der Rezensent auf dieses Buch und hört nicht auf zu lesen, bis er an der letzten Seite angelangt ist und dann, ja und dann nochmals beginnt. So unglaublich sind die Schicksale, die Arbeiten, die Leistungen jener neun – eigentlich sind es zehn – Frauen, welche die Autorin aufgestöbert hatte und die bereit waren in Interviews alles zu riskieren. Es ist unglaublich, wie anscheinend machtlos ein Staat gegenüber der Gewalt der Clans ist. Wie noch immer die verklärte Romantik den archaischen Ehrenkodex der „Familien“ das Denken und die Betrachtung von Außen beherrscht. Nebenbei erwähnt die Autorin, dass es selbst in „unregierbaren“ Städten wie Palermo oder Neapel immer wieder Ansätze gibt, die Hoffnungen aufkeimen lassen. Wenn einzelne Bürgermeister gewählt werden und Maßnahmen ergreifen, die zur Verbesserung der Lebenssituation führen, so sind dies Einzelerscheinungen und „es“ wird dafür gesorgt, dass derartige Experimente nicht von Dauer sind und mit Wahlen möglichst rasch wieder zu den ursprünglichen Zuständen zurückgekehrt wird. Da wird das gesamte Dilemma dieses Staates sichtbar! Und wie die Menschen sich damit abfinden, gottgewollt hinnehmen, dass bereits die Kinder auf der Straße in die Tätigkeiten eingespannt werden. „Wir bräuchten mehr Ganztagsschulen“ wird am Beispiel Neapels von der Vize-Polizeidirektorin gesagt. Wäre es wirklich so einfach? Was ist mit der systematischen Unterwanderung wichtiger Wirtschaftszweige, die sich schon längst nicht mehr auf Italien beschränkt, sondern unverrückbar in Deutschland, der Schweiz, in Österreich Fuß gefasst hat? Man fragt sich, wie weit die europäische Zusammenarbeit geht oder vielmehr, wie wenig weit! In Italien ist es ermöglicht worden, das Vermögen von verurteilten Mafiabossen einzuziehen, so wurden allein von der Camorra rd. 7 Milliarden Euro an Vermögen konfisziert. Das scheint ein beachtlicher Betrag zu sein, doch ist der Zeithorizont zu beachten: Das erfolgte innerhalb von 28 Jahren (zwischen 1992 und 2019), damit relativiert sich der Erfolg doch nicht so einschneidend, denn es sind im Jahresschnitt 263 Mio. Euro und das ist doch etwas mehr als ein „Abschreibposten“.
Und trotzdem sollte das Buch Mut machen, auch für den mitteleuropäischen Leser, denn es werden immer mehr Menschen, die NEIN sagen, sich dagegen stellen und immer mehr, die sich aktiv zur Wehr setzen. „Aufgeben? Niemals! Rief eine der Betroffenen.
Unvergesslich wird dem Rezensenten ein Erlebnis bleiben, als bei einem plötzlichen Wolkenbruch auf der SS 12 zwischen Leifers und Bozen die Sexarbeiterinnen aus Nigeria in ihrer spärlichen Bekleidung am Straßenrand ausharrten. Das letzte Kapitel des Buches schildert eindringlich die Grausamkeit mit der Frauen aus Afrika ausgebeutet werden. Und eine, die es geschafft hatte, sagt uns allen „Viele Leute glauben, wir sind alle Nutten. Aber nicht alle Nigerianerinnen kommen hierher, um mit Sex auf der Straße ihr Geld zu verdienen.“ Und noch eines liegt der betroffenen Frau besonders am Herzen: „Die jungen Frauen in Nigeria müssen besser informiert werden über das, was sie in Europa tatsächlich erwartet.“
Das wäre der Schlüssel für viele Probleme – auch mit der illegalen Immigration! Bleib zu Hause, das was dich hier erwartet ist um Nichts besser.
Ein Buch, das unendlich traurig machte beim Lesen, das aber auch wieder Hoffnung gibt, wenn es tatsächlich die Frauen sind, welche der Mafia den Kampf ansagen. Oft genug war es schon so in der Geschichte, dass „etwas weiterging“ wenn Frauen zugriffen und nicht auf die Ohnmacht und das Nichtstun der Männer warteten. Auch scheint es in der italienischen Öffentlichkeit ein Umdenken zu geben, nicht nur Einzelne haben genug von der Tyrannei der Clans, es wird auch politisch opportun, endlich wirksam vorzugehen. Darf man Hoffnung haben? Dem wunderbaren Land und den großartigen Frauen und Männern Italiens wäre es zu wünschen!
Hans Bäck
Mutter. Chronik eines Abschieds
von Melitta BreznikRezension von Hans Bäck
Luchterhand ISBN 978-3-630-8750-4
Melitta Breznik, in Kapfenberg geboren, AHS Matura, Medizinstudium in Graz und Innsbruck, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, lebt in der Schweiz.
Seit Jahren lässt Breznik immer wieder mit ungewöhnlichen Büchern aufhorchen. Ungewöhnlich, da sie immer wieder – und nicht nur zwischen den Zeilen – ihren Beruf durchleuchtet. Sie ist eine begnadete Schriftstellerin, welche anscheinend die Doppelbelastung - oder doch besser Doppelbegabung - anscheinend immer wieder bewältigt.
Nun legt sie einen schmalen Band vor – gerade einmal 160 Seiten – um vom Sterben ihrer Mutter zu berichten. In der Flut von Büchern zu diesem Thema, die nicht nur seit Corona über uns hereinbrechen, ist das eine wohltuende Ausnahme. Natürlich, es geht um das Abschiednehmen, das Loslassen, es geht um die alltäglichen Belastungen, welche auf die pflegende, begleitende Tochter hereinbrechen. Es geht auch um die Frage, was kann, darf, soll eine Tochter, die eben zufällig Ärztin ist, der unendlich leidenden Mutter an Erleichterung verschaffen. Ja, es wird ausgesprochen: An eine Verkürzung des Leidens denken? Das nehme ich als Rezensent vorweg, trotz der Möglichkeiten in der Schweiz, in der die Autorin lebt, wird das nicht vorgenommen. Erleichterungen ja, aber selbst die Verabreichung von Schmerzmitteln wird zur Überlegung „Wo beginnt die aktive Sterbehilfe und wo ist sie passiv, beeinflusst doch die kleinste Handlung den Sterbeprozess, jedes Geben oder Weglassen einer Schmerztablette, einer Infusion oder einer Beruhigungstablette.“ (S 129).
Die Autorin verschweigt auch nicht die psychischen und physischen Belastungen, die sich ergeben, die Belastungen durch „gutgemeinte“ Hilfsangebote, das Beharren der Mutter, möglichst lang selbstbestimmt zu bleiben – ohne es als Sturheit zu bezeichnen, das wäre die herkömmliche, ortsübliche Aussage des Außenstehenden. Doch das kommt im Wortschatz von Breznik nicht vor. Sie hat als erfolgreiche und arrivierte Autorin ein anderes Repertoire zur Verfügung.
Und sie lässt den Leser teilhaben an der Stille, welche die beiden Frauen in den Nächten umfängt, aber auch an den hellen Tagen, wenn die Mutter, erschöpft von den Mühen der Morgentoilette, wieder einschläft und die Tochter ebenso erschöpft die Stille in sich aufnimmt.
Eine Studentin der Uni Wien fragte den Rezensenten anlässlich eines Telefongespräches, wie autobiografisch die Texte von Melitta Breznik seien. Nun, nach einer Rücksprache mit einer der Helferinnen, die auch im Buch erwähnt wurde, ist dieses Abschiednehmen sehr genau und umfassend beschrieben. Es stellt sich jedoch die Frage, warum will das jemand wissen? Jemand, der die Autorin nicht kennt, womöglich nur vom Buch gehört hat? Was bedeutet für einen Leser, eine Leserin noch dazu eine junge aus der nächsten Generation, die Authentizität eines Textes? Ich habe der Anfragenden nur die Antwort gegeben, dass mit großer Wahrscheinlichkeit die meisten Texte der Schriftsteller irgendwo autobiografisch sind, ob sie damit auch schon authentisch sind, ist eine andere Frage. Beim Buch von Melitta Breznik halte ich persönlich die Frage nach dem „Umfang“ der Autobiografie für unanständig. Die Autorin legt hier einen ganz entscheidenden Abschnitt, zeitlich ja nur ganz kurz, vom 17. Oktober bis zum1. Dezember, ihrer Mutter-Tochter Beziehung dar und lässt den Leser Einblick nehmen in den großen Abschied, der in irgendeiner Form uns allen bevorsteht. Der große Abschied, der ein stilles Hinübergleiten sein kann, ein fürchterliches Aufbäumen, ein theatralisches Abtreten, egal, es bleibt ein ganz persönliches, intimes „Fortreisen für immer“ (Seite 158).
Es wäre schön, diesen Text auch von der Autorin persönlich einmal vorgetragen zu bekommen. Immerhin, ihr letzter öffentlicher Besuch in ihrer Heimatstadt liegt auch schon wieder 7 Jahre zurück. Wäre das eine Anregung, liebe Fr. Dr. Breznik?
Hans Bäck
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