Rezensionen und Lesetipps

An dieser Stelle weisen wir Sie auf Bücher hin, die auf verschiedensten Wegen zu uns gefunden haben.

Vielleicht können wir mit unseren Besprechungen Ihr Interesse wecken, sie ebenfalls zu lesen.


Rezensionen eingrenzen




Henrys Wendejahre. Roman eines Werdegangs

von Kay Ganahl
Rezension von Dagmar Weck

Taschenbuch, 288 Seiten

Grille Verlag, Uckerland

ISBN 978-3-947598-03-8

 

Mit einem Vorwort von Dr. Manfred Luckas

 

Der Autor Kay Ganahl begleitet in seinem Roman Henrys Wendejahre seinen Protagonisten Henry Schlock mit tiefem Einfühlungsvermögen bei Henrys Versuchen, nach der Wende 1989 in einem für Henry völlig veränderten Alltag sein neues Leben zu begreifen.

Vor der Wende hat Henry als Agent beim Staatssicherheitsdienst der DDR gearbeitet. Als die DDR aufhörte zu existieren, findet Henry im Westen eine Stelle als Angestellter bei der Organisation Stempel.

„Jemand wie Henry kann sich nicht so einfach als Bürger des Gegenwartsdeutschland fügen“, beschreibt der Autor Henrys berufliche und private Bemühungen, in einem einzigen Deutschland wieder so eine bedeutende Rolle zu spielen, wie er sie in der DDR ausfüllte.

Der Autor steht Henry nahe, aber er kann seinem Protagonisten nicht helfen. Kay Ganahl muss innerhalb dieser Nähe eine gewisse Distanz wahren, nur so kann er dem Leser die existenzielle Zerrissenheit des Henry nahe bringen.

Henry sucht das Äußerste: sie, seine neue Identität, die das harmonische Bild des Henry Schlock zeigt, das andere Menschen und er selbst von ihm bewundernd ansehen sollen.

Auferlegt hat der Staat DDR Henry seine alte Identität: sicher war ihm dort sein Ansehen als Agent der Staatssicherheit, ebenso seine Ehre im privaten Auftreten. Keinen Zweifel erlaubte seine Sprache an ihm selbst und an seinem damaligen Staat, dem er dienen durfte, er war ein ganzer Henry.

Die Macht des Staates machte Henrys Wertschätzung aus, die andere Menschen ihm gaben und die er sich selbst schenkte. Henrys Porträt seiner Person unterlag also einer Kontrolle, er liebte diesen Zustand. Die DDR löste sich auf, damit kippte Henrys Leben.

Sehr einfühlsam und differenziert bringt Kay Ganahl dies dem Leser nahe. „Ich weiß genau, warum ich lebe, die Gerissenheit meines Handelns gepaart mit der Zerrissenheit meiner Seele tragen zu einem lang andauernden wilden Erfolg bei“, sagt Henry zu sich selbst.

Ein einsamer Henry klammert sich an seine Illusionen im einst geteilten Deutschland. Er meint, er müsse die kapitalistische Gesellschaftsstruktur bekämpfen, die Realität im neuen Deutschland versteht er nicht. Alte Ideale, vergangene Bilder toben in ihm, er ist nicht in der Lage, sich an etwas oder an Menschen zu binden und eine neue Identität zu wagen.

Eine neue brauchbare Perspektive findet er nicht.

Henry leistet seinen Dienst bei der Bundeswehr ab, auch hier lassen ihn die Bilder der DDR nicht los. Henry sieht sich in der Bundeswehr als Agent, er sucht heimlich nach Fehlern, Mängeln, hofft auf Anerkennung.

Henry will Menschen beherrschen, in diesem Deutschland kann er sich nicht einordnen und ein Zuhause finden. Beherrschen will er Menschen, aber niemand hat ihm dazu einen Auftrag gegeben, also gibt er auch den Menschen, denen er begegnet, nichts.

Er weiß nicht, wie sich Freundschaft anfühlt, was Vertrauen ist. Zu Freiheit und Lockerheit kann er keine Beziehung aufbauen.

Der Autor vertraut dem Leser, diese Verhaltensweisen von Henry aus seinem Roman zu entschlüsseln.

Mit Gertrude-Hilde vermag Henry sich nicht liebevoll zu verbinden, er zweifelt. Der Autor führt den Leser zu der Erkenntnis: wann wird Henry erkennen, dass er sich selbst lieben darf?

Als wohltuend empfinde ich das Mitgefühl, das Kay Ganahl seinem Henry entgegen bringt.

Henry hat über seine alten inneren Bilder eine große Macht, sie haben auch über ihn Macht, weil er sie nicht los lässt, er verehrt sie. Eine fatale Abhängigkeit zwischen Henry und seinem selbst entworfenen Spiegelbild, das kein wirklicher Spiegel zeigt, ist entstanden.

 

Henry spiegelt sich auch in der literarischen Figur des Theo Gantenbein aus dem Roman ‚Mein Name sei Gantenbein’ von Max Frisch wider.

Henry gleicht auch dem literarischen Anatol Ludwig Stiller aus dem Roman ‚Stiller’ von Max Frisch. Anatol, Theo und Henry wissen nicht genau, wer sie sind, wo sie sich suchen sollen.

Kay Ganahl hat einen menschlich bewegenden Roman geschrieben.

Auch der Leser sucht oft nach seinem eigenen Ebenmaß.

 

Dagmar Weck




Der Koffer der Adele Kurzweil

von Manfred Theisen
Rezension von W. Mayer-König

Clio Verlag, Graz 2018, 240 Seiten, gebunden,

ISBN : 978-3-902542-59-5

 

Kommt man am Wohnhaus Schröttergasse 7 in Graz vorbei, stößt man auf einen Stolperstein mit der Inschrift „Hier wohnte Adele Kurzweil Jg.1925 Flucht 1938 Schweiz/Frankreich Interniert Drancy Deportiert 1942 Ermordet in Auschwitz“. Hier findet sich trocken und knapp eines der grausamsten wie berührendsten Schicksale zusammengefasst, wie es vielen jüdischen Kindern und Jugendlichen widerfahren ist. 1991 wurde auf dem Dachboden einer Polizeistation in Auvillar ein Zufallsfund entdeckt: ein Koffer voll mit anmutigen Zeichnungen und Modeskizzen, angefertigt vom 17 jährigen Mädchen Adele Kurzweil, und oben auf liegend ein Zettel mit dem kurzen handschriftlichen Text: „Ich heiße Adele, sucht mich nicht, ich existiere nicht, ich existiere nicht mehr. Ich heiße Adele, 17 bin ich, 17 Jahre für immer, 17 Jahre für die Ewigkeit“. Die Wirklichkeit dieser Worte ist so ungemein stark, dass es keiner erfundenen Rahmenhandlung bedurft hätte, wie sie der Autor für sein teils belletristisches teils faktenorientiert sachliches Buch wählt. Die Wirklichkeit ist stets aussagekräftig genug, und braucht nicht mutwillig spannend oder aktuell gemacht zu werden. Vergangenem mit erfundenen Rahmenhandlungen die Chance zu geben, in der Lebenswelt des heute lebenden Lesers verankert zu werden, kann deshalb rasch fehlschlagen, weil das Grauen länger nachwirkt, als man es zu verdrängen glaubt. Eine erfundene Rahmenhandlung bleibt also in der Regel hinter der literarisch gekonnten, und nicht mutwillig kostbar gemachten, Wirklichkeit zurück. Manfred Theissen hat sich in verdienstvoller Weise der Spurensuche von einigen Grazer Jugendlichen angeschlossen und sie sich nutzbar gemacht, als sie im Jahr 2000 nach Montauban aufgebrochen sind, um den Schicksalsweg Adeles nachzuzeichnen. Ergebnis war eine Ausstellung und zwei Bücher verschiedener Autoren. Vor allem bei der Rahmenerzählung ist einerseits die Sprache literarisch nicht ganz ausgereift, andererseits fehlt der Beschreibung von Mara und Philipe entsprechende psychologische Tiefe. Weder die seelischen Vorgänge noch die Handlungszusammenhänge sind schlüssig ausgestaltet, umso mehr müssen sie hinter das selbstredende und selbsterklärende sprachliche Gewicht des Faktischen, also der Tatsache zurücktreten. Auch die Darstellung der Liebesbeziehung zwischen Mara und Philipe ist kraftlos und nicht im Stande, Anteilnahme beim Leser zu erreichen. Die stilistische Dichte wechselt mehrmals während des Buchinhaltes. Vor allem wird auf den letzten fünfzig Seiten der Ton eines Kriminalromans angeschlagen, und obschon sich das restlos erschütternde  Ende einer hoffnungslosen Wirklichkeit abzeichnet, verzettelt sich der Autor in einer flachen, geradezu aufgesetzten Sprache. Dem Autor Theisen, Jg.1962, der sich mehrere Jahre in der Sowjetunion aufhielt, und dann in Äthiopien eine Entwicklungshilfe-Organsisation leitete, hätte man, vor allem auf Grund vorauszusetzender Lebenserfahrung, mehr sprachliche Immaginations- und Vermittlungsfähigkeit zugetraut, zumal die Fakten und Tatsachen der Geschichte von Adele Kurzweil, sich wie ein elektrischer Schlag an den Leser weiterleiten könnten. Was viel zu wenig behandelt wurde, ist die Auswirkung der „Nürnberger Rassengesetze“ und der „Wannseekonferenz“ auf das jüdische Einzelschicksal; die pädagogisch und human pionierhaften Hilfeleistungen Ernst Papaneks im Heim für jüdische Flüchtlingskinder; die Täuschung des Vertrauens in die von Petain proklamierte Souveränität Frankreichs; die nicht rasch genug ausgestellten, rettenden Visas, um Razzien und Deportationen zuvorzukommen; das zwar ausgestellte, aber von den Behörden in letzter Sekunde wegen Überbelegung behördlich verweigerte Affidavit durch Nelson Morris - alles also unüberbietbar spannende, weil wirkliche Ereignisse, die in diesem Buch weitgehend literarisch unbearbeitet und daher ungenutzt bleiben. Was vor allem jedoch diesem Buch empfindlich fehlt, ist die Beschreibung dieser auch in Gaskammern nicht zerstörbaren jugendlichen Zartheit zu begegnen, über die nach gleich welcher bestialischen Befriedigung der Todesschergen, niemand, nie und nimmer Herr werden konnte. Weil da etwas war, was über sie hinausging, nämlich das nachhaltig ergreifende Schicksal der Jugend.

Das Buch eignet sich für Jugendliche ab dem 15. Lebensjahr, ist aber vor allem wegen anhaltender Stilbrüche und versäumter Möglichkeiten für anschaulichen Geschichtsunterricht nicht besonders nachdrücklich zu empfehlen.

 

Wolfgang Mayer König




Salzburg Flood

von Johannes Witek
Rezension von Dietwin Koschak

DIE RADIKALE EINSAMKEIT DER POESIE

 

Auf 129 Seiten verdichtete Lyrik und eine erste vorläufige Frage lautet: Wer soll DAS lesen in einer Zeit der Einebnung von Werten, die auch vor der Kunst nicht Halt macht, Schrottkultur und Leuten des Kabaretts, die immer lachen auf Kosten anderer? Lachen darüber als guter Ton. Uns ekelt. Ja wer? - Wer liest noch zwischen den Zeilen und hört die Melodie eines gelungenen Gedichtes? Wer, ja wer, findet noch die Muße und hat vor allem das charakterliche und seelische Potential auf Poem´s anzusprechen? -

Der Autor karikiert den Rat heutiger meineidiger Psychotherapeutinnen und ähnlichem Gesindel, sich eine Katze gegen das abgrundtiefe Einsamkeitsgefühl des ver - chipten Homo Sapiens Sapiens Sapiens zuzulegen, aber ja nicht die Gesellschaft eines leibhaftigen Menschen. Isoliert, einsam wahnsinnig… So weit haben wir es gebracht. Anders wär besser. – Man macht Liebe am besten mit sich selbst!

Orpheus dreht sich um nach besseren Zeiten, aber es war ja die Zeit noch nie so schlecht wie immer. Wir verklären das Vergangene und die Erinnerung trügt. – Trügen auch die Frauen endlich die Last des Schnee´s und rauchende Kamine gab´s ja auch. Nicht wahr? Es war nie etwas besser, wie heute. Gell??? Nur ja nicht auf offener Straße ficken, das Wixxxen ist nur daheim vor´m Computer erlaubt. – Alles Blech, Blech, Blech … In anderen Zeiten sehen wir uns wieder. – Heißt ja   der Refrain dieses Buches des Sauerampfers und der wild blühenden Sommerwiesen…

Mal sehen. - Mal hören. Do you speak english, honey, yes I do. Fremdwörter zum Nachschlagen? Was heißt das, wenn ich drehe der Welt den Kragen um? Psychos lieben dich. - Ja, die, allein die sprechen die Sprache dieser Chiffren und wenigen Metaphern. - Etwa bilderfeindlich oh, du Poet des Gleich - zur Sache - Kommens? Jetzt oder Nie. - Nie oder Jetzt? Alles oder Nichts. Alles nichts, oder??? - Schwamm d´rüber und friss in dich nicht hinein den Verrat an den aufflatternden Tauben. Wie geht das denn: postialisch??? Bestialisch ist das etwa??? Wie das Tier. - Viech zu Viech. Scheide zu Scheide. Schwanz zu Schwanz. Darum geht´s, nicht wahr? Liebe ist alles. Fick dich selbst in deinen rosa Arsch. - Reden ist nicht erlaubt. Ein Abgesang auf unsere Zeit, aber es ist auch die Rede von Hoffnung, von Wurzeln, die etwa der Bäume (?), wohin plötzlich sie sich schütten als billiges Sonderangebot im Late - Night - Shopping einer Spaßgesellschaft, die nicht einmal das Gründen in Werten erahnt, geschweige denn verehrt. - Danke, nein, ich bereue es nicht, in diesem Regen des Abschiedes ohne Schirm gewatet zu haben … Und reingewaschen legt der Leser das Buch griffbereit an einen stillen Ort, um dort mit der Leserin darin nicht nur zu blättern. - Ja, sich fesseln zu lassen vom Autor und erleichtert zu wissen, dass es noch Menschen gibt, die wissen, dass Griechisch eben auch noch eine Sprache ist. - Zum Schluss bleibt ein Geschmack nach bitterem Thymian und dem Anbeten vom roten Stern eines Che Guevara. - Auf, auf zum Kampf! Es gibt nichts zu verlieren als den guten Ton der Mutter Erde.




Stahl, Seide, Sog & Druck

von Hans Bäck
Rezension von E X T E R N

Roman

Engelsdorfer Verlag, Leipzig

ISBN 978-3-96145-876-9

 

„Nun seit einigen Wochen das Buch fertig gelesen, und seit einigen Wochen mit dem Gedanken auf der Suche nach etwas, dass schön und mit Rhythmus aus den Kopf rinnt. Nach einem, so zu sagen, “weich fließenden Satz”, wie es ungefähr in einem poetischen Vers klang, den ich vor Jahren in einem “Reibeisen” - das Kulturmagazin vom Literaturkreis Kapfenberg herausgegeben - las und mir in Erinnerung geblieben ist. Ich meine etwas Besonderes, Wirksames, das ein Start für die Präsentation oder, wegen Covid 19, für eine Rezension sein könnte.

Anstelle dieser hoch klingenden Phrase, ähnlich wie ein blinkender Fahrtrichtungsanzeiger, taucht immer wieder die gleiche Idee auf: ‚Du hast auch diesmal nicht einfach eine Geschichte gelesen, sondern mehreres gelernt.’

Ich...das heißt, auch andere Leser, die wenig oder überhaupt keine Kenntnisse im Rahmen Marktwirtschaft diesbezüglich Betriebshandlungen besitzen, hätten Gelegenheit Erkundung zu finden. Obwohl unser Autor uns wissen lässt: ‚...es handelt sich um einen Roman und um keine Reportage’, schaden, meiner Meinung nach, neue Überblicke nie.

So ähnlich passierte es mir auch mit dem ersten Roman von Hans Bäck: „Lautsprecher in den Bäumen“. Durch das Erzählen unseres Wirtschaftsexperten konnte ich mich, wenn immer nur geringfügig, auch damals mit den notwendigen nicht mehr verschiebbaren Umstrukturierungen und Modernisierungen von Betrieben im fernen Russland während der Jelzin Ära, bekannt machen.

Bemerkenswert: Bewegungsgrund unseres Beraters, abgesehen normalen Ehrgeiz, ist nicht eigenes Interesse oder besser gesagt nur das Einkommen. Bei ihm stehen die Menschen, ihre Arbeit, ihr Leben im Vordergrund. Auf gleicher Stufe auch Umweltschutz. Eine Art zu tun und zu handeln, wovor man den Hut ziehen kann.

Dieselben Gedanken und Bemerkungen gelten weiterhin für den zuletzt herausgegeben Roman, dessen Titel “ Stahl, Seide, Sog & Druck” lautet.

Zusammengefasst, im ersten Abschnitt,

„Stahl“  erfährt man über Angelegenheiten, die sich in einem wichtigen Stahlkonzern in Österreich ereignen. Na ja, für mich kurz und gut ein “gruppo industriale “, das eben Stahl erzeugt und mit Markt zu tun hat. Stopp.

Aber nein, es läuft gar nicht so einfach: Bald gewinnt Andreas Corman, durch sein berufliches Verhalten - und das noch bevor er selbstständiger Unternehmensberater wird - schon wieder meine/unsere respektvolle Aufmerksamkeit. Dynamiken, Rollen, Projekte und Änderungen halten immer noch vor Augen die Menschen und umweltfreundliche Prozesse und Technologien.

Aber so wird er, wie angedeutet, auch später handeln, sobald er selbstständig tätig wird. Einstellung und Verhalten ändern sich nicht, nur Einsatz und Anstrengung steigern. Das lässt sich aber nicht vermeiden.

Ich wurde also noch einmal in eine Welt projiziert, eine technische Welt, mir von Bildung aus fremd - und gerade nicht meine Neigung-, die auf einmal trotzdem eine gewisse Neugier geweckt hat. Wer konnte schon ahnen, dass ich Zeitungsbeilagen, welche sich mit Marktwirtschaft beschäftigen, statt wie üblich in den Papierkorb landen lassen, durchgeblättert und manche Artikel sogar gelesen hätte?

Möchte noch hinzufügen, wie ich durch Bäck’s Buch verschiedene Fachbegriffe und Definitionen betreffs Bereiche, Materialien, Arbeitsverfahren, die mir auch auf Italienisch unbekannt waren, zur Kenntnis gekommen sind. Muss gleichzeitig zugeben, dass ich nicht immer alles gut oder richtig verstanden habe, und hätte nichts dagegen mich “ein bisschen” belehren zu lassen. (Nur ein bisschen, aber! Bitte um Verzeihung).

 

Von diesem ein wenig (für mich) komplizierten Kontext abgesehen, finden wir rundherum vielfältige Intermezzos. Zum Beispiel eine wichtige Ergänzung zur  „großen oder zur Haupt-Geschichte” realisiert die Begegnung mit Menschen, und deren Schicksalen und Lebensereignissen, während einer sonderbaren Mitarbeit in einer Werft von Monfalcone, ganz in der Nähe von Triest. Erzählungen und Erinnerungen, bei denen eine wahre Abrechnung heute noch fehlt. Historiker deren Aufgabe es wäre jede Version, auch wenn nicht immer und für jeden akzeptabel, mit Vernunft darzustellen. Jedenfalls lassen uns diese Ereignisse bewusst werden, wie eigentlich Geschichte eher aus der Summe dieser kleinen und oft sehr schmerzhaften Erfahrungen besteht, mehr als von Entscheidungen der  Politiker oder von unsinnigen Befehlen der Generäle. Einblicke, die unterschiedliche Mentalitäten und Kulturen berühren und nicht selten auch Probleme der Sprache, als Kommunikationsmittel gesehen, mit sich bringen.

Glücklicherweise, mit der Qual der Wahl, in einer Osteria im Karst oder in einer Gostilna lässt sich die Seele danach erleichtern. Nur der Magen wird vielleicht ein wenig misshandelt, denn gerade leicht sind die Speisen nicht, besonders wenn man dazu als Vorspeise eine Platte Prosciutto di S. Daniele oder Prsut und Salami eingeschoben und mit Cubana abgeschlossen hat. Soll es eine gute Flasche Wein vom Collio, einen rubinroten Refosco oder einen herben Terran aus Slowenien gewesen sein, wird ein guter heißer Espresso helfen. Mit oder ohne Milchcreme (für mich ohne, bitte!)

Lassen wir uns dann durch die vielen uns bekannten Gegenden begleiten: in den Gassen des berühmten Görz herumschauen, im Villaggio del Pescatore rasten, im Restaurant Dama Bianca in Duino gemütlich gute Kost genießen. Im Dunklen, unter einen Sternenhimmel oder hellem Mond auf der Mole spazieren und “Im Schein der Lampe” eine der ergreifenden Duineser Elegien traumverloren lesen: “Wer, wenn ich schrie...” Ach, warum packt mich jetzt ein Schauer, ähnlich einer ungemütlichen Vorahnung...Wo ist nun mein Engel geblieben? Werde ich ihn noch einmal finden?

Der Name, und Palindrom, Anna wirkt schön für einen Engel. Man sagt, man soll ihn anrufen um etwas Verlorenes wieder zu finden.

 

Seide. Von Anfang an eine weniger komplizierte Art und Weise: so fühle ich es wenigstens. Vielleicht weil Seide besonders für Frauen ein beliebtes und nicht selten auch geträumtes Konzept darstellt? Jein, machen wir es nicht so banal und simpel.

Es stünden Argumente vor, um die betreffenden Kapiteln zu besprechen und Fragen zu stellen. Vor dem Leser stehen sehr intensive Seiten. Als erstes möchte ich aber betonen wie zärtlich, voller Liebe und gleichzeitig realistisch und direkt der Autor die Persönlichkeit und die Kompetenz von Fräulein Cecilia, mit Kosenamen Celia genannt, schildert. Schon bei der ersten Dienstreise unseres Andreas Corman nach Wien tut sich viel. Das winzige Büro von Fräulein Fürstner liegt im 6. Stock. Unser Protagonist wird es friedlich mit einem Paternoster erreichen. Muss ich lachen: würden Jüngere wegen Treppensteigen-Anstrengung an das Gebet denken? Lassen wir uns über so ein Altertum überraschen.

Da ist sie, die junge Dame, “unglaublich wichtig für mich“ wie der Oberreferent sich ausdrückt. Mit nach oben verdrehte Augen antwortet Celia: ”Er fürchtet, dass ich ihm eines Tages abhandenkomme”.

Musica laetitiae comes medicina dolorum (musica compagna della gioia, medicina nel dolore, Johannes Vermeer).

Es beginnt bei den zwei jungen Leuten “in laetitiae” mit einem Konzert: Schubert und Haydn. Danach an einem Würstelstand am Karlsplatz bleiben, noch herumstehen und plaudern und die Gegend in welcher der Roman “Strudlhofstiege “ sich abspielt, entdecken...Celia, von nun an die Begleiterin im jüngeren Teil Andreas Leben.

Mit Celia eindrucksvolle Bergerlebnisse, Geschäftsreisen kombiniert mit kurzen Kunstbesichtigungen oder erholenden Wochenenden.

Chancen, Anerkennung, Sozialprestige soll man womöglich blitzartig ergreifen. Pläne lassen sich doch auflisten.

Eine neue Erfahrung startet auch für Celia: auch sie setzt sich als selbständige Marktspezialistin ein.

Im „Universum Gewebe“, wie schon angedeutet, bildet Seide einen Luxussektor. Der Bereich Seidenproduktion in der Region Piemont wäre geschichtlich und unter mehreren Gesichtspunkten ein zu untersuchendes Thema: ausgehend von industriellen Architekturen und sozialen Problemen. Es handelte sich um schwere und ungesunde Arbeit und Minderjährige wurden auch zugeteilt (heutzutage von Robotern und Klimaboxen wenn auch positiv die Arbeit erleichtert, aber eine gewisse Arbeitslosigkeit im Sektor verursacht).  

Von asiatischer Herkunft und vor Christus bekannt, wurde der Maulbeerbaum (Morus) auch “Schutzbaum” genannt: weil er rundherum die Weinreben eben schützte. In China (aber dann auch im Piemont) wurde auch Papier daraus erzeugt. Beeren können auch im Kosmetikbereich verwendet werden. Da die grünen Blätter der Zucht des Seidenspinners dienen war das der Hauptgrund um Maulbeerbäume nach Europa einzuführen.

Aber aufpassen, lieber Leser: “ Seidenfäden kommen von einer Raupe, un bruco, nicht von einem Wurm, von einem Verme”!

Den Höhepunkt bei Celia werden wir in der Mailänder Scala erleben: zum magischen Musikabend trägt sie ein wunderschönes luxuriöses Seidenkleid. Haltung und Aussehen: um ihr Hals ein Collier, das sie von Andreas geschenkt bekommen hat.

 

“Und das Schönste zeigt die kleinste Dauer“, Heimito von Doderer.

 

Sog & Druck: Diese beiden Wörter, mit jeweils eigener Bedeutung, bilden hier dagegen ein binäres und untrennbares Paar, da sie zusammen eine ganz andere, und in diesem Fall nicht gerade angenehme, Kraft und Bedeutung weiterleiten. Man könnte es ein semantisches Code benennen, welches in eine Lebenserfahrung einen umfangreichen Blick wirft.

Sog spielt jetzt hinterhältig mit unserem Paar:

Das nächste Mal...

Die nächste Woche, Monat ...

Die nächste Tour ...

Die nächste Besichtigung...

Es wird schon werden...

Im Wirbel, keine Zeit um sich Zeit zu nehmen. Weiter im Hamsterrad...und auf einmal, spürt man den Druck. Wenn das Bremsen noch immer nicht gelernt wird, wird man dazu gezwungen werden. Man wird sich Zeit nehmen müssen: es kann bitter sein.

(Eine Redewendung klingt ungefähr so: wenn Du den Himmel standhaft mit einem Wunsch anbetest, irgendwann wird dein Wunsch erfüllt werden, nur Du weißt nie im Voraus wann, wie und warum)

Meine persönliche Erfahrung: jedes Mal als das Wochenende in unserem Häuschen im Gebirge zu Ende war, dachte ich mit einem Seufzer: “Würde ich gern längere Zeit hier verbringen”. Jetzt bin ich praktisch seit dem 5. März da angesiedelt. Darf mich in keinem Sinn beklagen aber ...Wo steckt der Grund? In einem verdammten gefährlichen Spuk! Mein Wunsch wurde doch erfüllt!)

“Welcher Geiger hat uns in der Hand?”, Rilke

Vieles wäre noch bemerkenswert: langjährige Freundschaft und Auseinandersetzungen mit denen man nie rechnen wollte...Na ja, es wird schon wieder gut werden.

Ich denke, es ist Zeit alles andere dem Leser zu überlassen: beim Lesen keinen Druck, nur positiver Sog.

 

Renata Grim, Trieste




Haarmann - Ein Kriminalroman. München 2020

von Dirk Kurbjuweit
Rezension von E X T E R N

Ausgangpunkt dieses Buches ist ein realer Kriminalfall der frühen zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts, und der aus dem Journalismus kommende Autor hat sich bei seinen Recherchen auf verlässliche Quellen berufen können und zum Beispiel nicht auf die umfangreiche zeitgenössische Presseberichterstattung vor allem in Deutschland und auch in Österreich zurückgreifen müssen, was von Nachteil, aber auch von Vorteil gewesen ist. Denn die Reportagen und Analysen, die auch von Kriminologen, Psychiatern und Sozialhistorikern in lokalen und regionalen Blättern in bedeutendem Ausmaß veröffentlicht wurden, hätten durchaus zu einer vielfältigeren Einsicht in den Fall Haarmann geführt, andererseits liegt der Vorteil im Zeitgewinn für die eigenen Absichten, verkürzt somit die Arbeitszeit auf Kosten der Überprüfbarkeit der Quellen.

Warum ich das hervorhebe: Mit der Hauptquelle des Autors, nämlich Theodor Lessings „Haarmann. Geschichte eines Werwolfs“, ist das so eine Sache. Lessing begleitete den Prozess gegen den Massenmörder von Hannover mit der Besessenheit eines linken Weltverbesserers in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, also in der frühen Phase der Weimarer Republik, in der es praktisch an allem mangelte und somit radikalen Ansichten von Links und Rechts Nahrung geliefert wurde. In Österreich ging das Gespenst um, als durch die Pariser Friedensverhandlungen „kastrierter“ Staat nicht überleben zu können.

Die ideologischen Ansichten des jüdischen Philosophen und Publizisten Theodor Lessing, der 1938 im Marienbader Exil als frühes prominentes Opfer der Nazis erschossen wurde (die drei Mörder sollen angeblich nicht zur Rechenschaft gezogen worden sein) waren Voraussetzung für seine Aufnahme in den Kreis von 14 Autoren, die der Berliner Verlag Die Schmiede unter der Leitung von Rudolf Leonhard eingeladen hatte, für die neue Buchreihe „Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart“ Beiträge zu liefern (mit dabei waren etwa Alfred Döblin, Egon Erwin Kisch, Ernst Weiß, Iwan Goll und als Außenseiter wurde zum Beispiel Mörder, Hochverräter, Anarchisten, notorische Betrüger, Hochstapler, politische Extremisten und Verantwortliche für Fehlentscheidungen der Justiz gesehen). Das Verlagsunternehmen war allerdings noch breiter angelegt, wurde aber durch den alsbaldigen Bankrott der Schmiede jäh beendet.

Lessing stand als Verfasser des Buches „Der jüdische Selbsthaß [!]“ im ständigen Konflikt mit der bürgerlichen Presse ebenso mit der Gelehrtenwelt an den Universitäten. Schlussendlich wurde ihm auch die venia legendi entzogen.

Der einstmals sehr bedeutende Kulturpublizist Bruno Frei hat mir 1981 brieflich die Zusammenhänge zwischen Verlag und Autoren erläutert und dabei auch auf die Sturheit des Theodor Lessing hingewiesen.

Dirk Kurbjuweit hat sich also an Lessings Darstellung dieses grauslichen Falls mit circa zwei Dutzend bestialischen Morden an sozial benachteiligten Jugendlichen orientiert, im Wesentlichen den Prozess gegen Haarmann geschildert. Wieweit die im Anhang genannten „Haarmann-Protokolle“ von Michael Farin und Christine Pozsár eine Rolle gespielt haben, bedarf noch einer Kontrolle meinerseits.

Kurbjuweit spannt einen Bogen von den Unzukömmlichkeiten der polizeilichen Ermittlungen (Haarmann wurde ja mehrfach verdächtigt, aber lange Zeit nicht überführt) über den Prozess selbst bis zum Todesurteil, das 1925 vollstreckt wurde.

Ein zentrales Bedürfnis des homosexuellen Triebtäters waren die Vergewaltigungen, die Tötung der Opfer durch Bisse in den Hals, der anschließende Blutrausch, die fachmännische Zerstückelung der Leichen und – was diesen Fall noch zusätzlich unerträglich macht – die Vermarktung der Leichen als Schweinefleisch, die Beseitigung der Knochen durch Versenkung in den städtischen Fluss Leine und der Handel mit den Habseligkeiten der bedauernswerten Opfer.

Somit ist Kurbjuweits Buch doch eher ein dokumentarischer Text und kein Kriminalroman, was selbst durch den Einbau des fiktiven Ermittlers Lahnstein nicht so recht gelingen will, auch wenn er mit dieser Figur sich selbst Gelegenheit gibt, kritische Sichtweisen auf die Zwanziger-Jahre zu werfen und die Spannungen innerhalb der Ermittlungsbehörden aufzuzeigen. Die in Kursivschrift gehaltenen Passagen am Beginn der neun Kapitel schweifen doch manchmal sehr von den Schilderungen des Falles ab.

Seit meiner ersten Beschäftigung mit Haarmann sind Jahrzehnte vergangen. Literatur über den Fall gibt es genug: Mehrere tausend zeitgenössische Presseberichte (einfach ANNO googeln), Alfred Hrdlicka hat mit einer Plastik in Hannover für große Empörung gesorgt, aber auch tolle Grafiken geliefert, der Film der „Der Totmacher“ wurde mehrfach ausgezeichnet und mit ihm Götz George (sein Nuscheln müsste man mögen!)

Der Lektüre von Kurbjuweits Haarmann-Buch verdanke ich Hinweise auf neue Literatur zum Fall und auf Stoffbearbeitungen. Somit ist zumindest mein Interesse nach Jahrzehnten wieder erwacht.

 

© Peter Adacker, A-8650 Kindberg





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