15. 03. 2022 - UKRAINE - Worte statt Waffen

 

Dirk-Uwe Becker, u. a. Mitglied des deutschen PEN und im Vorstand des "Europa-Literaturkreis Kapfenberg" liest aus dem bisher unveröffentlichten Roman „Grauzone“ des ukrainischen Autors Aleksei Bobrownikow.

Darin beschreibt Bobrownikow die gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Ost-Ukraine, auch „Graue Zone“ genannt.

 

Hier der Link zur Lesung: https://vimeo.com/691374107

 


 

Norbert Leitgeb

 

Bitteres Lachen

 

Sie werden lachen, ‘s war zum Schießen,

als just im Fasching Bomben krachten,

sie Masken sich von Fratzen rissen

und Fremdland sich zu eigen machten.

 

Der Einmarsch dient gerechter Sache?

Es wurd‘ wohl selten mehr gelacht!

Verhöhnend wird der mutig Schwache

vom Blutopfer zum Täter g’macht!

 

Der Herrscher trägt die Schuld alleine?

Zu grausam-kraus wär‘ seine Sicht?

Doch käm‘ der Krieg nicht auf die Beine,

gäb‘ es die Helfershelfer nicht.

 

Das Grauen kam in Divisionen,

zu deren Wohl, wie ‘s höhnisch hieß,

als, ohne Frau und Kind zu schonen,

man gegen ‘s Völkerrecht verstieß.

 

Die UNO saß mit lahmen Gesten

und schaffte nichts als leere Phrasen –

doch wurd‘ dem Schuft sogar vom Westen

Vorsitz und Vetorecht belassen!

 

Man sagt, wer schnell hilft, helfe doppelt,

doch wird erst lange diskutiert,

und statt zu eilen wird gehoppelt,

dieweil man haufenweis‘ krepiert.

 

Man kämpft nicht selbst, doch gibt ’s Sanktionen,

und neue Waffen auf Kredit,

denn Nachbarhilfe muss sich lohnen.

Wo ‘s Kriege gibt, gibt ‘s auch Profit!

 

Doch schafft vielleicht man eine Wende

durch breite Solidarität,

damit den Graus man doch noch ende –

es wär‘ zu hoffen, dass das geht!

 

Es ist heroisch, wie sie trotzen

der tollwütigen Übermacht.

Die eig‘ne Ohnmacht ist zum Kotzen.

Nie wieder Krieg? - Kaum je so g´lacht.

 


 

Michael Fuchs

 

BLUT IN DEN STRASSEN

Die Straßen sind voll von Blut

in den Köpfen regt sich Wut

 

Gewalt, das Wort wird zum Gesetz

gehetzt, gejagt, verletzt

 

bleiche Gesichter klaffen an den Wänden

die ihre Botschaften senden

 

in halb dunklem, weit dem Tag entfernt

geschehen Dinge . . .

 

sie haben nichts gelernt

 


 

Hans Bäck

 

Es ist genug!

Im November 1956 sandte der Chefredakteur der ungarischen Nachrichtenagentur MIT kurz bevor das Büro von der russischen Artillerie dem Erdboden gleichgemacht wurde ein Fernschreiben an die ganze Welt, dass der russische Angriff auf Budapest begonnen habe und endete mit den Worten „Wir sterben für Ungarn und Europa!“

Im August 1968 marschierten die Truppen des Warschauer Paktes in Prag und der übrigen Tschechoslowakei ein. Hunderte, tausende Menschen der Charta 77 wurden in die Gefängnisse geworfen, verloren Arbeit und Pensionsansprüche, für die CSSR und für Europa.

Von September bis November 1991 starben in Vukovar hunderte Menschen für die „Nation, das Vaterland und Europa“ und dann 1999 feuerte die Nato Bomben auf Belgrad, Novisad und andere serbische Städte im Namen der „Freiheit und Europa“.

2003 war die freie Welt ganz arg bedroht durch den Irak unter Sadam Hussein und wurde daher dieser und sein Staat zerbombt. Wieder im Namen der Freiheit und damit ist die freie Welt bis heute noch nicht fertig!

Die Folgen sind allgemein bekannt: Der Dschihad, der IS, Al Quaida, und letztlich die gnadenlose Verfolgung der Taliban um die Freiheit in Afghanistan zu sichern. Denn immerhin, die deutsche Bundeskanzlerin behauptete, dass die Sicherheit der Bundesrepublik auch am Hindukusch gefährdet sei.

Und nun sterben und fliehen Menschen wieder für die Sicherheit und Freiheit Europas, mitten in Europa. Nun stirbt die Ukraine für uns!

 

Hört das niemals auf???

Wer ist dieses oder dieser Europa der oder das so unverschämt den Tod unendlich vieler Menschen verlangt, es in Kauf nimmt, dass mühsam aufgebaute kleine Hütten von Panzern plattgewalzt werden oder Wohnungen in Hochhäusern und Plattenbauten beschossen werden.

Und wieder wird für Europa gestorben.

Schön langsam denke ich mir, diese namensgebende phönizische Königstochter hätte sich mit dem vermaledeiten Stier nicht einlassen sollen!

Publikumswirksam ist es immer noch und ganz besonders in Zeiten der TV-Direktübertragung zu hören „Herr Bundeskanzler, wir sterben auch für Euch!“

 

Es ist genug gestorben, es sind genug Menschen geflohen, haben ihr Hab und Gut verloren! Man rufe sich in Erinnerung wie traurig der alte Mann vor dem Bombentrichter steht in dem sein Auto, sein kostbarstes Stück, sein mühselig erworbenes, mit Liebe und Hingabe gepflegtes Her-zeig-Objekt ein Blechklumpen in einem Erdloch ist.

 


 

Friederike Krassnig

 

Unter der Sonne

Wo friedlich Schafe weiden,

haben Wölfe nichts zu suchen,

man muss auch Menschen meiden,

die mit geballten Fäusten fluchen.

 

Lasst Liebe eine Sprache sein

und ist sie noch so stumm,

denn ein gekonnt gespanntes Lügennetz

dreht uns den Magen um.

 

Der gute Wille und die gute Tat

besiegen Feindschaft und Verrat.

So lasst in Liebe uns zusammenhalten

und nicht durch Kriegslust alle Herzen spalten.

 

Wie herrlich und wie wunderbar

wird wieder alles Leben,

wenn alle Waffen schweigen

und Menschen nach dem Frieden streben.

 


 

Josef Graßmugg

.

. . .

. . . . . . . .

wieder neue soldaten

die alles taten

für ihren sold taten

die traten

in die armee eintraten

auf schwache eintraten

im krieg

für den sieg

in diesem krieg

sie dachten

an schlachten

an morden

für orden

nach den vielen

die fielen

wieder neue soldaten

die alles taten

. . . . . . . .

. . .

.

 


 

Karl Plepelits

 

Flucht vor der Kriegsfurie

25. Mai 1992. In Bosnien herrscht Krieg. Schmutziger Krieg. Die Serben bemühen sich nach Kräften, die bosnischen Muslime niederzumetzeln, auszurotten, zu vertilgen, als wären sie bloßes Ungeziefer.

In Kozarac, einer kleinen muslimischen Stadt in Bosnien, müssen zwei Kinder, der dreizehnjährige Resul und die achtjährige Fatima, von einem Versteck aus hilflos zusehen, wie Serben ihre Eltern auf bestialische Weise abschlachten und das Haus niederbrennen.

 

Die Bewohner von Kozarac, unter ihnen Resul und Fatima, rennen um ihr Leben. Ihr Ziel sind die Wälder des nahen Kozara-Gebirges. Unter den Flüchtlingen entdecken sie Onkel Sulejman, einen Freund ihrer Eltern, und wandern mit ihm entlang dem Hauptkamm nach Nordwesten, um so nach Österreich zu gelangen. Liebevoll wie ein Vater sorgt er für ihr leibliches Wohl. Er hat nämlich eine halbautomatische Glock eingesteckt, zeigt ihnen auch, wie man damit umgeht, und erlegt damit ab und zu einen Hasen oder einen Fasan und brät das Fleisch über einem rasch entfachten Feuer. Übernachtet wird im Wald.

Nur, so nett Onkel Sulejman auch ist, Resul fühlt sich stets diskriminiert, wenn er mit ansehen muss, wie seine Schwester deutlich freundlicher behandelt wird. Zufällig sieht er eines Abends, wie Onkel Sulejman Fatima über die entblößten Schenkel streichelt, und weiß: Ihre Keuschheit ist bedroht. Ist er nicht als ihr älterer Bruder verpflichtet, diese zu bewahren, mit welchen Mitteln auch immer? Allah (Ehre sei ihm) weiß, was wir tun. Er will, dass alle, die die Ehre der Jungfrauen schänden, gesteinigt werden.

Resul hat im Religionsunterricht gut aufgepasst.

Es wird Nacht. Resul erwacht durch unerklärliche Geräusche. Er richtet sich auf und sieht in dem durch das Geäst der Bäume gefilterten Mondlicht, wie sich Onkel Sulejman, halb entkleidet, über Fatima beugt. Ihre Beine sind entblößt und obendrein gespreizt. Noch etwas sieht er: Onkel Sulejmans Jacke mit der halbautomatischen Glock. Sie liegt in Griffweite.

Gleich einem Roboter greift er nach der Jacke, fischt die Glock heraus, lädt sie durch. Das dabei entstehende Geräusch hört Onkel Sulejman. Er wendet sich von Fatima ab, blickt zurück, springt flink wie ein Raubtier auf. Im selben Augenblick drückt Resul ab. Onkel Sulejman erstarrt in seinen Bewegungen, geht langsam in die Knie, bricht nieder, bleibt stumm und regungslos liegen.

Fatima springt ihrerseits auf, rennt auf Resul zu, wirft ihre Arme um seinen Hals, bricht in Tränen aus. „Danke, lieber Bruder! Du hast mich gerettet. Nur, was jetzt?“

„Nichts wie weg hier, was sonst.“

Er verstaut die Glock in seiner eigenen Jackentasche, nimmt Fatima bei der Hand. Und so machen sie sich durch die Dunkelheit davon wie Hänsel und Gretel und ruhen nicht eher, als bis der Morgen graut.

Weit oberhalb der Talsohle stoßen sie auf ein einsam gelegenes Gehöft. Die Bäuerin gibt ihnen zu essen und zu trinken und bietet ihnen an, in der Scheune zu übernachten und morgen früh mit ihr zum Wochenmarkt in Karlovac mitzufahren, falls sie ihr helfen, die Obst- und Gemüsekisten auf den Traktoranhänger zu heben und dort zu verstauen. Unterdessen sind sie offenbar in Kroatien.

In Karlovac angekommen, liefert die Bäuerin die Kisten und die zwei Kinder bei einem Transportunternehmer ab und bittet ihn, diese nach Ljubljana mitzunehmen.

Doch sie sind erst eine halbe Stunde unterwegs, da hält er an.

„Habt ihr überhaupt einen Ausweis?“

Resul und Fatima schütteln den Kopf.

„Nein? Da muss ich euch aber aussteigen lassen. Jetzt kommt gleich die Grenzbrücke zu Slowenien. Und da gibt’s neuerdings eine Grenzkontrolle.“

Ungerührt sieht er zu, wie die Kinder mit enttäuschten Mienen hinausklettern, und braust davon. immerhin, Allah sei Dank, beide Grenzposten können sie anstandslos passieren und setzen ihren Weg eben per pedes fort.

Enttäuscht, verbittert und schrecklich hungrig und durstig erreichen sie die erste slowenische Stadt. Wo könnten sie sich hier etwas Genießbares erbetteln? In einem Gasthaus vielleicht?

Und da taucht auch schon ein solches vor ihnen auf. Sie betreten es zaghaft und werden freundlich aufgenommen und bewirtet. Doch während sie selig schnabulieren, stehen unversehens zwei Polizisten vor ihnen und verlangen ihre Ausweise. Da sie keine zu sehen bekommen, durchsuchen sie ihre Jackentasche und entdecken – was? Natürlich, die automatische Glock. Diese wird kommentarlos konfisziert, sie selbst auf die Polizeiwache mitgenommen und dort eingesperrt. Nun, wenigstens müssen sie hier nicht mehr hungern.

Einige Tage später erscheint eine Nonne, geleitet sie zu einem Auto und verstaut sie in dessen Rücksitz. Es folgt eine stundenlange Fahrt in Richtung Norden. Nur, die Nonne schweigt eisern, und das macht ihnen mehr und mehr Angst. Zuletzt biegt sie von der Straße auf einen steil bergauf führenden Weg ab, und wenige Minuten später kommt ein auffallend großes, düsteres, ja furchterregendes Gebäude in Sicht, davor eine hohe Mauer, dahinter dichter, dunkler Wald, der sich einen steilen Berghang hinaufzieht. Der Wagen fährt durch ein eisernes Tor in einen großen Hof und hält vor dem Eingangsportal. Davor erwartet sie eine weitere Nonne, alt und dick und abscheulich anzusehen. Vor ihrer Brust baumelt ein großes goldenes Kreuz.

Resul und Fatima dürfen aussteigen, und die Nonne, die sie hierher chauffiert hat, deutet ihnen wortlos, der dicken Alten zu folgen. Diese wendet sich, ohne einen Ton von sich zu geben, um und schreitet voran, der angsterregenden Monsterbehausung zu. Im Inneren empfängt die Kinder zu allem Überfluss ein deprimierender Geruch.

Und um es kurz zu machen: Resul und Fatima befinden sich hier in einem von Nonnen geleiteten Kinderheim. Und damit, wie sich herausstellt, in einem neuerlichen Gefängnis, im Vergleich zu dem jenes Polizeigefängnis ein wahres Paradies war. Als Erstes erhalten sie christliche Namen und dürfen ihre muslimischen Namen nicht mehr gebrauchen. Ein Pater Vladislav tauft sie und versucht sie nun zu gläubigen Katholiken zu erziehen. Natürlich ohne den geringsten Erfolg.

Als weit schlimmer empfinden sie es allerdings, dass sie sofort unbarmherzig getrennt werden und dass hier absolutes Sprechverbot herrscht. Damit nicht genug, müssen sie schon wieder hungern. Obendrein werden sie pausenlos nach Strich und Faden gedemütigt, misshandelt, ja sogar gefoltert. Ihre Arbeitskraft wird rücksichtslos ausgebeutet. Und: Fatima wird von Pater Vladislav missbraucht.

So geht das viele Monate hindurch. Und erst im November hilft ein glücklicher Zufall den beiden Kindern, heimlich zu entwischen. Durch das nur kurz geöffnete Eisentor flitzen sie hinaus, entlang der Mauer in den Wald und, dort angekommen, den Berghang hinauf, verzweifelt hoffend, dass ihre Flucht nicht gleich bemerkt wird.

Nur, der Hang ist steil, und im Wald ist es nicht immer leicht, vorwärtszukommen. Und trotz des Morgennebels und der morgendlichen Kälte schwitzen sie bald wie in einer Sauna. Aber wenigstens regnet es nicht, und es liegt auch noch kein Schnee. Immerhin, der dichte Nebel ist ihr Freund.

Nach geraumer Zeit überschreiten sie die Nebelobergrenze, und sie erwartet ein strahlend blauer Himmel. Bald darauf stoßen sie auf einen Fahrweg. Das hat den Vorteil, dass sie schneller vorwärtskommen, aber den Nachteil, dass sie leichter gefunden werden können, falls man sie verfolgt, zumal jetzt, oberhalb des Nebels. Und als sie obendrein erkennen, dass der Weg zu einem bäuerlichen Anwesen führt, verlassen sie ihn gar schnell wieder und nehmen lieber die Unbequemlichkeit des dichten Waldes auf sich als das Risiko, gefasst und zurückgeschleppt zu werden. Und auch der Umstand, dass sie schwitzend und schnaufend einen Berghang erklimmen müssen, hat einen unbestreitbaren Vorteil. Die Gefahr, sich zu verirren oder gar im Kreis zu gehen, ist auf diese Weise praktisch ausgeschlossen.

Irgendwann endet der Wald, vor ihnen erstreckt sich eine weite, steile Grasfläche, übrigens ganz ohne Schnee, und zuoberst ist bereits der Gipfelkamm zu erahnen. Dieser ist, wie sich herausstellt, sanft gerundet und vollkommen frei von gefährlichen Felsen. Ist das vielleicht schon die Grenze zu Österreich?

Doch nun befällt sie eine neue Sorge: Was, wenn zufällig ein Grenzposten vorbeipatrouilliert und sie erwischt und zurückschickt oder gar festnimmt? Immerhin sind sie durch ihre hässliche Anstaltskleidung schon von weitem als Zöglinge des höllischen Kinderheims im Tal und damit als Ausreißer erkennbar. Oder noch schlimmer: Am Ende steht dort oben ein Grenzzaun mit Stacheldraht und anderen Schikanen wie bis vor kurzem am Eisernen Vorhang, und keiner kann drüber, oder man wird gar erschossen?

Schließlich stehen sie ganz oben. Sie haben den Gipfelkamm erreicht. Von nun an geht es in ihrer Richtung nur noch bergab. Nur, ist das überhaupt die Grenze? Da ist kein Grenzzaun, niemand brüllt „Stoj!“, oder wie das halt auf Slowenisch heißt, und kein Grenzposten kommt auf sie zu gestürmt, um sie am Übertritt zu hindern. Ist das am Ende doch noch nicht die Grenze? Ängstlich blicken sie um sich. Und dann zeigt Fatima erwartungsvoll auf einen niedrigen, rot und weiß bemalten Steinquader in einiger Entfernung und sagt: „Was ist das?“

„Ha, das kann doch nur ein Grenzstein sein“, ruft Resul aus, stürmt voller Aufregung auf diesen zu und erkennt schon von weitem dessen Aufschrift: ein großes O mit zwei Pünktchen darüber. Was mag das wohl bedeuten? Slowenisch oder Serbokroatisch-Bosnisch ist es jedenfalls nicht, denn in diesen Sprachen existiert ein solcher Buchstabe nicht. Es muss der deutschen Sprache angehören und ist vielleicht der Anfangsbuchstabe des deutschen Wortes für Austrija.

Ja, das muss es sein. Überglücklich fällt Resul seiner Schwester um den Hals und schreit: „Fatima, mi smo u Austriji, samo zamisli!“ („Wir sind in Österreich, stell dir vor!“)

Und ehe noch irgendwas oder irgendwer dazwischenkommen kann, nimmt er sie bei der Hand und beginnt den Gegenhang hinunterzustürmen, soweit die Almwiesen reichen. Erst als sie dem Waldrand nahe kommen, machen sie halt und setzen sich ins Gras, um zu verschnaufen und sich ihres unverhofften Glücks bewusst zu werden. Nun ist hoffentlich nicht mehr zu befürchten, dass sie ein Häscher gefangen nehmen und ins Kinder-KZ zurückschleppen könnte. Was hätten sie wohl gemacht, wäre ihnen, sagen wir, Pater Vladislav mit einem Moped nachgekommen?

Diese Frage stellt Resul in den Raum. Fatima beantwortet sie postwendend: „Ich hätte ihn mit Steinen beworfen. Noch lieber hätte ich ihm die Augen ausgekratzt für das, was er mir angetan hat.“

„He, du hast recht. Ich wäre aus demselben Grund vielleicht mit einem dicken Ast auf ihn losgegangen und hätte ihn erschlagen. Das hätte er genauso verdient wie Onkel Sulejman.“

Dann fällt ihnen ein, dass sie strenggenommen auch hier noch nicht sicher sind. Wenn die Grenze nicht stärker bewacht ist, könnten ihnen eventuelle Verfolger natürlich bis hierher nachkommen. Zudem sind sie auf der Alm weithin sichtbar.

Also auf und weiter in den Wald hinein!

Im Wald kommen sie nur langsam voran, obwohl es zeitweise steil bergab geht. Aber dann stoßen sie zu ihrer Erleichterung auf einen Fahrweg, der mäßig steil bergab führt. Und da nehmen sie erneut die Beine unter die Arme und rennen sozusagen um ihr liebes Leben und halten nur an, um an Quellen und Bächen ihren Durst zu stillen. Und vor einem einsam gelegenen Bauernhaus, an dem sie vorbeikommen, haben sie fast keine Angst mehr, und wenn doch, dann höchstens vor einem Hund, der sie unter wütendem Gebell verfolgt und den Resul mit einem rasch aufgelesenen Holzstück abwehrt.

Beim nächsten Bauernhaus erleben sie eine unsagbar freudige Überraschung. Eine junge Frau beruhigt sofort ihren Hund, der die Kinder mit Gebell begrüßt, und begrüßt sie ihrerseits in einer Sprache, die garantiert nicht Slowenisch ist und Serbokroatisch schon gar nicht. Zu ihrem Bedauern können sie den Gruß nur mit Gesten und einem schüchternen Lächeln beantworten. Aber dafür wissen sie nun ganz bestimmt, dass sie sich nicht mehr auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien befinden. Die Frau ruft ihnen auch noch irgendetwas nach. Und das klingt zwar irrsinnig freundlich, ja einladend. Aber sie verstehen kein Wort und wagen nicht zu fragen, und auch nicht, sich zu erkennen zu geben.

Nach stundenlanger Wanderung bergab – die Sonne steht bereits verdächtig niedrig – mündet der Fahrweg in ein schmales, aber asphaltiertes Sträßlein. Und bald danach sehen sie vor sich eine größere Anzahl geparkter Autos, alle mit Nummerntafeln, die garantiert nicht jugoslawisch sind, und dahinter ein Gasthaus mit großem, gutbesuchtem Gastgarten. Mittlerweile ist nicht nur ihr Durst, sondern vor allem auch ihr Hunger übermächtig geworden. Hunger sind sie zwar längst gewohnt. Aber hier verlockt sie ein köstlicher Duft, haltzumachen und, hinter einem Gebüsch verborgen, zu beraten, ob sie es wagen sollen, den Wirt anzubetteln. Fatima zweifelt nämlich immer noch, ob es ratsam ist, hier an etwas Essbares zu gelangen.

Während sie noch beraten, hören sie in unmittelbarer Nähe fröhliche Kinderstimmen. Im nächsten Augenblick stehen zwei Mädchen vor ihnen, starren sie mit großen Augen an und sagen dann etwas. Und das ist zu Resuls und Fatimas Entzücken dieselbe Sprache, mit der sie die junge Bauersfrau angesprochen hat.

Als die zwei Mädchen erkennen, dass sie nicht verstanden werden, ergreifen sie kurzerhand die Hände der total erschöpften Kinder und schleppen sie in den Gastgarten zu den dort Tafelnden. Sie postieren sich vor einem Tisch, an dem mehrere Erwachsene sitzen und sie verwundert anblicken, holen zwei freie Stühle, stellen sie an den Tisch und fordern Resul und Fatima durch Handzeichen auf, sich daraufzusetzen. Das tun sie, wenn auch nur zögernd und unter ängstlichen Blicken auf die Erwachsenen und zugleich unter begehrlichen Blicken auf die duftenden, verlockenden Speisen, mit denen der Tisch beladen ist.

Einer der Herren am Tisch hat das in diesen Blicken enthaltene Begehren offenbar erkannt. Er nimmt zwei leere Teller, legt je zwei Brotschnitten und je eine Schinkenschnitte und je zwei Schnitten Käse darauf, stellt sie vor Resul und vor Fatima hin und fordert sie, ebenfalls durch Handzeichen, freundlich lächelnd auf, unverzagt zuzugreifen und es sich schmecken zu lassen. Und sie greifen zu mit ihren schmutzigen Händen und lassen es sich schmecken. Dabei ist ihnen vollkommen bewusst, dass der Schinken Schweinefleisch ist, dessen Genuss der Islam verbietet.

Und wie sie es sich schmecken lassen! Etwas so Köstliches haben sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr schnabuliert – zuletzt in ihrem Elternhaus, serviert von ihrer armen Mutter. Und Schinken haben sie sowieso noch nie gekostet. So wunderbar lassen sie es sich schmecken, dass die zwei Mädchen kichern müssen und die Erwachsenen zuerst erstaunte und dann betroffene Gesichter machen und, da die fremden Kinder die Speisen im Nu wie hungrige Wölfe verschlungen haben, ihnen freigebig immer mehr auftischen, bis sie beim besten Willen nicht mehr können. Ein erstauntes Gesicht macht zunächst auch die Kellnerin. Doch bald danach bringt sie zwei große Gläser voll mit köstlichem, frischgepresstem Apfelsaft. Und immer wieder danken Resul und Fatima ihren Wohltätern in Form von Gesten.

Sobald sie dieses ungewohnte Festmahl beendet haben, spricht eine der Damen sie auf Englisch an und fragt, ob sie Englisch verstehen. Darauf kramt Resul seine kärglichen und längst verschüttet geglaubten Englischkenntnisse hervor und sagt: „A little.“

Und so erfahren ihre Wohltäter einiges über sie, so gut es Resul vermag – wohlgemerkt, bei weitem nicht alles, vor allem nichts über Onkel Sulejmans Verbleib und nichts über das schreckliche Kinderheim, dem sie soeben glücklich entronnen sind.

Danach spricht einer der Herren Resul an. Dieser versteht zwar nur „sleep“, schließt aber daraus, dass er gefragt wird, wo sie in der kommenden Nacht zu schlafen gedenken. Seine Antwort: Schulterzucken. Irgendwo im Wald, sagt er sich im Stillen, werden wir schon ein Plätzchen zum Schlafen finden, so wie früher mit Onkel Sulejman. Aber dann fällt ihm ein: Verdammt, im Unterschied zu damals können die Nächte jetzt im November schon bitterkalt werden.

Gedankenversunken, wie er ist, merkt er plötzlich, dass die Dame, die ihn als Erste angeredet hat, neuerlich zu ihm spricht, und er hat den Anfang überhört und versteht nur noch „come with us“. Da bringt er erst recht kein Wort hervor, jedenfalls kein englisches, und kann die Fragende nur ungläubig anstarren. Sie nickt heftig, quasi um ihn zu ermutigen, und er flüstert seiner Schwester zu: „Du, die wollen uns mitnehmen. Was sagst du jetzt?“

Und was sagt Fatima jetzt? Sie bricht in Tränen aus und ruft: „Komm, laufen wir geschwind davon, damit sie uns nicht einholen können!“

„Aber nein. Ich glaube, die wollen uns nicht zu den Nonnen zurückbringen, sondern zu sich nach Hause mitnehmen, und dort sollen wir übernachten.“

Augenblicklich versiegen die Tränen, Fatimas Augen werden groß, und ein wundersames Leuchten geht über ihr Gesicht, und Resul antwortet: „She says yes. And thank you.“ Und könnte er, so würde er seiner Dankbarkeit noch bedeutend wortreicheren Ausdruck verleihen.

Aber nun stürmen die zwei Mädchen freudestrahlend auf sie beide zu und zerren sie, lebhaft plappernd, von der Bank und führen sie zu etwas, was sie noch nie gesehen haben: einen Kinderspielplatz. Na, da ist die ganze Müdigkeit vergessen und wie weggeblasen. Nie hätten sie nach dem vielen Kummer gedacht, dass sie wieder einmal so vergnügt sein könnten.

Doch nur allzu bald erheben sich die Erwachsenen und wandern in Richtung Parkplatz. Die nette Dame, die sie eingeladen hat, wiederholt ihre Aufforderung. Zugleich ergreifen die zwei Mädchen ihre Hände und schleppen sie zu einem der geparkten Autos und verfrachten sie auf den Rücksitz. Die eine setzt sich zu ihnen, die andere winkt ihnen zum Abschied zu und steigt in ein anderes Auto. Die freundliche Dame setzt sich zu ihnen auf den Beifahrersitz, einer der Herren setzt sich ans Steuer, und los geht’s.

Sie fahren, soweit es Resul beurteilen kann, weiter nach Norden, und das heißt: ins Innere von Österreich. Das freut und beruhigt ihn und Fatima so sehr, dass beide fast auf der Stelle einschlafen. Sie erwachen erst, als es aussteigen heißt.

Sie sind in ihrem schönen neuen Zuhause angekommen. Mehr noch, sie haben eine liebevolle neue Familie gefunden.

Und: Sie sind in Sicherheit, können in Frieden und in Freiheit leben.

 


 

Dietwin Koschak

 

SOS UKRAINE SOS. ÜBER GEWALTFREIEN WIDERSTAND UND DAS UMARMEN DER FEINDINNEN UND FEINDE

Ein Schrei für Frieden: - kein Krieg (!) und

es blutete weidwund beim Aufgang einer Akaziensonne: -

Woher wohl das Licht jetzt scheint?

Weine aber nicht und

es tagte ... -

 

Es nachtete und

Lachen aber nicht ... -

Wohin wohl der Schatten später flackerte?

Es blutete betroffen beim Untergang einer Akaziensonne; -

ein Schrei für Frieden: - kein Krieg!

 

Ein Schrei für Frieden: - kein Krieg (!) und

es bricht entzwei reudig beim Aufgang eines Korallenmondes: -

Woher wohl das Recht plötzlich zu beschießen?

Es abstirbt der Arm und

es heißt ja Leben???

 

Es heißt ja Tod und

es heißt ja Mord ... -

Wohin wohl die Freiheit ewiglich zu Lieben???

Es bricht entzwei lautstark beim Untergang eines Korallenmondes und

ein Schrei für Frieden: - kein Krieg!!!

 

Ein Schrei für Frieden: - kein Krieg!!!

Ein Schrei für Frieden: - kein Krieg!!!

Ein Schrei für Frieden: - kein Krieg!!!

 


 

Richard Mösslinger

 

Wüvül

Wüvül Tränan sand vargoss'n,

wüvül Load is bis hiatz gschehgn,

wüvül Leit hat ma darschoss'n,

wüvül sand zarfetzt daglegn?

Wüvül Eltern habm die Kinder

in dem Kriag bis hiatz varlorn,

wüvül werdn durch d' Menschnschinder

hiatz als Halbwaiser geborn?

Wüvül müass'n fast varhungern,

wal die Hülf net durchikimmt,

wüvül siachst nur umalungern,

dei zan Nixtoan sand bestimmt?

Wüvül Jahr müass'n vafliaßn,

bis dass endlih Ruah eintritt,

wüvül müass'n 's denn noh büaßn,

wüvül nimmt der Tod noh mit?

Wüvül Bombm und Raketn

müass'n noh auf d' Erdn falln,

dass dei, dei fest hoffm, betn

für den Wahnsinn müass'n zahln?

Wüvül muaß denn noh zarstört wer(d)n,

Haus und Hof und Viech und Land,

wulln dei immer noh net aufhearn,

dei die Macht habm in der Hand?

Wüvül. ...? Kunnt ma weitafragn,

und kriagt doh koa Antwort drauf;

's is so, wia ba Regntagn -

irgndwann heart 's zan regnan auf!

        


 

Joachim Gunter Hammer

 

Nie wieder Krieg in Europa?

Irrlichternd vom Um

nachtungshimmel Bomben –

besucht Luzifer die Erde?

 

Schüsse, Explosionen …

Kinder stottern oder

hören zu sprechen auf

 

Kopfschuss – blutiges

Schlüsselloch

in was für eine Realität?

 

Mag ihr Morgen

ohne Hahnenschrei und

der Finsternis Aufgang sein?

 

Kriege, Erdbeben, Karzinome …

doch Hauptsache, GoTt

ist aus dem Schneider?

 

+++

 

Übernachten

in U-Bahnschächten, oben

sind die Häuser zerbombt.

 

Don’t eat the despots and rich,

lass ihr Fleisch nicht kreisen

in deinem Leib!

 

Unterm Mikroskop

die Beißwerkzeuge von Bürgern

der Großmacht Ameise

 

Ist der Menschen Aus

schon festgeschrieben im Sideletter

der Unsterblichen?

 

Fühlst dich heute

als Heuaufgusswesen

in Abwesens Gurkenglas

 

+++

 

Ist die Schönheit und Hässlichkeit

des Menschen echt un

übertrefflich?

 

Welch Flackern schaut

dein Drittes Aug am Tag –

zahllose Allerseelenlichter.

 

Wieder ist Krieg

da spielt eine Geigerin Bach

im Bombentrichter

 

Der Diktator ist tot.

Seine gebleichten Knochen

beruhigen uns sehr.

 

Legst dich schlafen

mit einem Foto

von der Nachtseite der Venus

 


 

Christine Teichmann

 

Stell dir vor, es ist Krieg

Stell dir vor, es ist Krieg, und niemand geht hin

Stell dir vor, es ist Krieg, und niemand sieht hin

Stell dir vor, der Krieg kommt zu dir

und du gehst weg

und lässt alles zurück

die Wohnung, für die du ein halbes Leben gespart hast

den Bücherschrank, den du ein ganzes Leben gefüllt hast

die Fotoalben mit mehreren Leben

das Puppenhaus, das du für deine Enkel aufhebst

und das ist alles ganz gleich

und tut gar nicht weh

zumindest heute nicht

Heute schmerzt der Abschied von deinem Mann, deinem Sohn, deinem Freund

der bleiben muss oder bleiben will

Stell dir vor, es ist Krieg, und jemand geht hin

Geht hin, um sich entgegen zu stellen

damit der Krieg nicht noch näher kommt

Und dein Glauben an den Frieden bröckelt ab

und darunter kommt ein golden glänzendes Heldenepos zum Vorschein

das alsbald blutverschmiert im Dreck landen wird

Denn Krieg ist nicht heroisch

auch wenn es Tapferkeit gibt

Krieg ist krank und tut weh

 

Der Krieg, zu dem niemand hingehen braucht, ist der

den wir vor Jahren hätten verhindern können

wenn wir unsere Geschäfte moralisch geführt hätten und nicht gewinnmaximiert

wenn wir den Menschen beigestanden wären

und nicht den Systemen

 

Stell dir vor, es ist Krieg

Stell dir vor, es ist Krieg

 


 

Wolfgang Mayer König

 

SINNLOS OHNMÄCHTIG

Mir geht es genau so. Sinnlose Ohnmacht, die verbleibt. Über solche Gewalt, solchen Massenmord, solche Verbrechen an der Menschheit und Menschlichkeit, über so unfassbare Leidzufügung an Unschuldigen und Verstärkung des Leids an Bedürftigen, Notleidenden und Kranken, die ohnehin schon auf der Verliererstraße des Lebens ausgesetzt waren. Das exemplarisch Böse, das ungehindert über Hand nimmt und gigantische Ausmaße annimmt. Die gesellschaftlich ermöglichte, ja geförderte Verbrechernatur, und ihr gegenüber die pompös inszenierte Absage an die Bedrängten, das Hinauszögern derer letzter Hoffnungen, das Aufbauen unüberwindlicher Hürden, das Abgrenzen und Selbstbewahren, über das Ausgelöscht -Werden der Anderen, die Austilgung ganzer Völker hinaus. Solche Schande des Im-Stich-Lassens, des scheinheiligen Mitgefühls, der Ängste, dass einem selbst nicht solches Schicksal widerfährt, ist nie und nimmer tilgbar. Dieses Blut lässt sich niemals mehr abwischen, diese Tränen nie mehr trocknen. Eine ekelerregende Anbiederung, das Hinterlassen einer üblen Schleimspur der Profiteure, der deplatzierte Kotau, und wo man hinschaut, extreme Geschmacklosigkeit, sind der hiesige Beitrag zu den sich schon seit vielen Jahren abzeichnenden Vorbereitungen unermesslichen Schreckens, die von Menschen gegen Menschen ausgedacht wurden, und von allem Anfang an gegen diese gerichtet waren. Die Welt hat aufgehört, sinnvoll zu existieren. Eine solche Kultur, eine solche Politik, ergibt keinen Sinn.




01. 12. 2021 - ADVENTKALENDER

24. Dezember

 

Sabine van de Sandt

 

Weihnachtsgold

 

Einsame Seifenblase weht durch die Morgenluft

eisgefrorene Flugkugel – zerspringt im Winterduft

Wörter und Buchstaben fallen heraus

 

Ochs, E, F und Sternenstaub

Esel, Gold, und M und J

Klirrend gehn zu Boden

springen und tanzen und fliegen

zu Worten und Sätzen sich biegen

 

Ochs und Esels Atemwolken

Flügelrauschen, Heu und Stroh

Maria und Josef irgendwie froh

Das lachende Kind, ein Stall im Wind

 

Hirten und Weisen folgen dem Stern.

Sie singen und beten, kommen heran.

Sie knien und lauschen, hören ein Rauschen

und folgen weiter dem Stern.

 

Es singt die Welt zur stillen Nacht,

Sternenstaub hervorgebracht.

Sätze und Verse in Melodien

ins Neue Jahr hinüberziehen.

Knisternder Sternenstaub,

Mensch fang dir was und mach´s zu Gold.

 

 


 

23. Dezember

 

Gerti Kornberger

 

Innere Stunde

 

Schon flüchtet der Tag

von den Tälern zu den Höhen.

Violatöne

blauen die Wälder ein.

 

Im Silberstreif am Grat

der halbe Mond.

 

Wunschlos glücklich

steh ich

unter schneevermummten Fichten.

 


 

22. Dezember

 

Manfred F. Kolb

 

Das Flugticket

 

Jens Ravenhorst hatte sich gerade in einem Sessel der Hotel-Lounge nieder gelassen und sich in die Tagezeitung vertieft, als er angesprochen wurde.

„Ist der Platz neben Ihnen noch frei?“

Jens ließ die Zeitung sinken und sah auf. Vor ihm stand eine junge Dame im grauen Hosenanzug, mit dunklem Haar und ebenso dunklen Augen und lächelte ihn an.

„Aber ja, natürlich“, antwortete er, „nehmen Sie ruhig Platz.

Als er sich wieder in seine Lektüre vertiefen wollte, hörte er sie mit einer angenehm warmen Stimme sagen:

„heute ist HeiligAbend. Viele Menschen haben die Bedeutung dieses Abends längst vergessen. Für sie ist Weihnachten nur ein Schenkfest geworden“.

Jens Ravenhorst ließ die Zeitung wieder sinken. „Was sagten Sie da eben: Weihnachten hat keine Bedeutung mehr? Da irren sie sich. Meine Frau und ich sind gläubige Christen und wir feiern Weihnachten mit unseren Kindern im Gedenken an die Geburt des Heilands!“

„Und was machen Sie dann hier im Hotel? Entschuldigen Sie, dass ich Sie das so direkt frage, denn das geht mich eigentlich gar nichts an!“ In Ihrem Gesicht spiegelte sich ein kleines Erschrecken über Ihre Bemerkung wider.

„Sie dürfen das gerne wissen“, antwortete er mit ruhiger Stimme. „Ich wollte heute Mittag eigentlich nach München fliegen, um mit meiner Familie HeiligAbend zu feiern, aber durch eine lange Besprechung mit meinen Auftraggebern habe ich den Flieger verpasst. Und die Abendmaschine ist restlos ausgebucht. Es wollen offensichtlich viele Menschen Weihnachten zuhause verbringen. Nun kann ich erst morgen Früh abfliegen.“

Die junge Dame sah ihn mitfühlend an. „Das tut mir sehr leid für sie. Sie haben sich sicher auf zuhause gefreut, nicht wahr? Und nun muss Ihre Familie ohne Sie diesen besonderen Abend verbringen!“

Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „ich heiße übrigens Lydia Leiras.  Und entschuldigen sie bitte, dass ich Ihnen mit meinen Fragen aufdringlich vorkommen muss!“

„Das tun Sie nicht! „Mein Name ist übrigens Jens Ravenhorst, ich bin Architekt und habe mit dem hiesigen Großbauprojekt zu tun, das unter Zeitdruck steht. Deshalb die heutige Besprechung, die länger als geplant dauerte.“

Die junge Dame schwieg. Jens sah, dass es in ihrem Kopf arbeitete.

 „Da Sie sich nach dem Grund meines Hierseins an HeiligAbend in einem Hotel fern von der Familie erkundigt haben, erlauben Sie mir Sie zu fragen, warum Sie an diesem christlichen Gedenktag allein hier im Hotel sitzen? Haben Sie auch eine Familie oder einen Menschen, der auf Sie wartet?“

Lydia Leiras antwortete nicht gleich. Dann räusperte sie sich und erklärte Jens Ravenhorst, dass sie kein Zuhause wie er hätte und niemand auf sie wartete. Aber es täte ihr unendlich leid, dass er HeiligAbend ohne seine Familie allein verbringen müsse.

Mit diesen Worten griff sie nach ihrer Handtasche, die sie neben sich im Sessel platziert hatte, und holte einen länglichen Umschlag heraus, den sie Jens überreichte.

„Nehmen sie das bitte“, sagte sie in einem beschwörenden Tonfall, „im Umschlag befindet sich ein Flugticket für die Abendmaschine nach München. Wenn Sie sich demnächst auf den Weg machen, erreichen Sie die Maschine noch rechtzeitig!“

Jens Ravenhorst schaute sein weibliches Gegenüber erstaunt an: „Ihr Flugschein für die Maschine nach München? Das ist ja sehr nett von Ihnen, aber das kann ich nicht annehmen. Sie haben doch den Flug für sich gebucht, um heute Abend nach München zu fliegen. Da wartet doch bestimmt jemand auf Sie. Was anderes kann ich mir gar nicht vorstellen!“

In Lydia Leiras Gesicht zeigte sich das warme Lächeln, das er während ihrer Unterhaltung schon öfter an ihr bemerkt hatte. „Nein, auf mich wartet an HeiligAbend weder in München noch sonstwo irgend jemand auf mich. Machen Sie sich keine Sorgen um mich: ich fliege dann eben morgen früh.“

Jens Ravenhorst hatte sich nach längerem Zögern entschlossen, das für ihn unerwartete Geschenk doch anzunehmen, welchen Grund die junge Dame dafür auch haben mochte.

„Und was bin ich Ihnen für das Flugticket schuldig?“, fragte er sie.

„Nichts“, antwortete sie. „Betrachten Sie es als ein Weihnachtsgeschenk von jemand, der den Wunsch hat, dass Sie Weihnachten nach christlicher Tradition mit Ihrer Familie feiern können!“

Mit vielen Dankesbezeugungen verabschiedet sich Jens Ravenhorst von Lydia Leiras, nachdem er auch ihr ein besinnliches und erfülltes Weihnachten gewünscht hatte, wo immer ihr das begegnen würde.

„Ja das tut es bestimmt“, verabschiedete sie sich von ihm.

Als Jens Ravenhorst im Flughafen am Checkin-Schalter der Fluglinie die Angestellte um eine Umbuchung des Tickets von Frau Lydia Leiras auf seinen Namen bat, erlebte er eine Überraschung. Die Angesprochene, die das Ticket dem Umschlag entnommen hatte, schüttelte nämlich den Kopf: „Herr Ravenhorst, das Flugticket, das Sie mir überreicht haben, ist doch auf ihren Namen ausgestellt!“

Als er sie ungläubig anblickte, sagte sie: „da sehen Sie selbst!“

Und in der Tat, da stand sein Vor- und Zuname. Jens wusste nicht, was er sagen sollte. Wie in Trance nahm er seine Bordkarte entgegen und strebte dem Warteraum zu. Wie konnte es sein, dass das Flugticket, das Lydia Leiras ihm geschenkt hatte, nicht auf ihren, sondern auf seinen Namen ausgestellt war, fragte er sich. War hier Zauberei im Gange? Oder gehörte Dame zu den Himmlischen Heerscharen, die zu Weihnachten Gutes tun wollten? Letzteres war aber unwahrscheinlich in Anbetracht der Begegnung mit Lydia Leiras im Hotel, die nichts überirdisches oder engelhaftes an sich hatte.

Jens lächelte bei diesem Gedanken und bestieg den Flieger, der ihn zu seiner Familie bringen würde, die er nach dem Einchecken über sein Smartphone von seiner überraschenden rechtzeitigen Ankunft an HeiligAbend verständigt und damit große Freude ausgelöst hatte.

Auch seine Familie, der er später von dem Geschenk des Flugtickets durch die ihm unbekannte junge Dame namens Lydia Leiras berichtete, konnte keine Erklärung für das Geschilderte finden.

Als Jens nach den Weihnachtsfeiertagen an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte und wieder im selben Hotel Quartier bezog, fragte er den Empfangschef an der Rezeption nach einer Frau namens Lydia Leiras, die er an HeiligAbend in der Lounge getroffen hätte. Aber eine Dame dieses Namens hatte dort kein Zimmer gebucht gehabt, erhielt er als Auskunft. Und in der Lounge war an HeiligAbend auch keine Dame anwesend gewesen, daran hätte er sich erinnert. Nach seinen Beobachtungen habe er, Herr Ravenhorst, bis zu seiner Abreise Zeitung lesend allein in der Lounge gesessen.

Trotz intensiven Nachdenkens fand Jens Ravenhorst keine Erklärung für sein Erlebnis. Dabei hätte er nur die Buchstaben des Nachnamens „Leiras“ in die richtige Reihenfolge bringen müssen.

Denn rückwärts gelesen wird aus Leiras der Name des Erzengels Sariel.

 


 

21. Dezember

 

 

Barbara Klein

 

Von einer kristallenen Hülle umfasst,
in vermeintliche Sicherheit gepackt,
verwandeln deine spitzen Enden
das Weiß in rot.
Schmerzlich erkennst du das Innere
und lässt dich bluten.

 

 

 

 


 

20. Dezember

 

Maria Schneider

 

Vorweihnachtsgedanken

 

Wir alle, wir lieben die Weihnacht ja sehr

und freun uns aufs Fest jedes Mal,

wir feiern es Jahr für Jahr wie auch bisher

doch sind wir nicht sentimental.

 

Wir mögen die Hektik und auch manchen Brauch,

Geschenke zur Weihnacht sind Pflicht,

Adventkranz und Christbaum, die lieben wir auch

weil ´s immer nach Kerzenduft riecht.

 

Es kommt nicht drauf an, ob ´s zu Weihnachten schneit,

ob Truthahn am Festtagstisch steht,

viel wichtiger ist es, dass man verzeiht

und dass man einander versteht.

 

Es kommt auch drauf an, wie viel Freude man gibt,

damit man auch Freude empfängt

und dass man es sagt, wenn man jemanden liebt

und dass man sich selber verschenkt.

 

Vor zweitausend Jahren schenkte Gott uns ein Kind,

die Weissagung hat sich erfüllt

und wenn wir im Glauben gefestigt auch sind,

dann sind wir in Liebe gehüllt.

 

 


 

19. Dezember

 

Josef Graßmugg

 

(Haiku)

 

Überall Kälte.

Ein Fingerzeig von oben

gebietet Einhalt.

 

 


 

18. Dezember

 

Richard Mösslinger

 

Traumkugeln

 

Das Christkind flog zum Fenster rein

und schmückte meinen Baum,

in jeder Kugel spiegelt sich

von mir ein stiller Traum.

Da sind: Der Frieden in der Welt,

dass niemand hungern muss,

dass sich ein jeder rasch verträgt,

gab es einmal Verdruss;

dass niemand Wälder erdgleich macht,

die Sauerstoff uns spenden,

dass keine Tiere – sinnlos oft –

durch Menschenhand verenden,

dass Hass und Neid nicht mehr regier´n,

Vergangenheit nur sind;

durch Liebe, Freundlichkeit ersetzt

vom Ält’ren bis zum Kind;

dass jeder gern ein Lächeln schenkt,

das dich und mich beglückt,

dass niemand böse Worte spricht! .....

 

Ich weiß, es klingt verrückt!

 

Die Kugeln sind mit Träumen voll.

Wer weiß, ob irgendwann

der eine, and’re sich befreit,

„lebendig“ werden kann!?

 

 


 

17. Dezember

Barbara Klein

 

Bergauf mit Schweiß und Kraft,
hinan zum Gipfel,
durch gleißendes Sonnenlicht
auf Schienen gleiten.

 

 


 

16. Dezember

 

Tasso J. Martens

 

(Limerick)

 

ich frage mich tagein tagaus

wo lebt eigentlich der nikolaus

bei den elchen

doch bei welchen

oder gar im einfamilienhaus?

 

lebt er denn in einer kita

dorten wohl als untermieta

als jäger von fall

gar im hasenstall

oder bei heinz und roswitha

 

man sagt auch er lebe wohl

hoch im norden dort am pol

er lebe dorten schlicht

bei polarem licht

und verzehre nur bratwurst mit kohl

 


 

15. Dezember

 

Manfred Kolb

 

Der Weihnachtsengel von Eggesin

(eine wahre Geschichte)

 

Der 24. Dezember 2010 war angebrochen und ich hatte meine Familie darüber informieren müssen, dass ich von meinem Dienst im Krankenhaus Ueckermünde erst spät am Heiligabend nachhause kommen könnte.

Meine Familie in Eggesin konnte ich am Telefon lange nicht beruhigen. Heiligabend mit Bescherung der Kinder ohne Ehemann und Vater war für meine Lieben einfach unvorstellbar. Aber schließlich fügte sie sich.

Für den Heimweg nach Dienstende hatte ich eine wenig befahrene Nebenstraße gewählt. Während ich mir die Szenen der Wiedersehensfreude ausmalte, kam Nebel auf. Erst zogen einige milchige Schwaden über die Straße, die sich dann aber immer mehr verdichteten. Bald war im Scheinwerferlicht nur noch eine matt beleuchtete graue Suppe wahrzunehmen.

Ich drosselte die Geschwindigkeit, schaltete Nebelschweinwerfer und Schlussleuchte samt Warnblinkanalage ein und schlich mit 30 Stundenkilometern vorwärts. Ich kannte die Strecke gut. Eine gut ausgebaute Nebenstraße, die über eine schmale Brücke führte, die kurz vor Eggesin das Flüsschen Uecker überquerte.

Wenn ich diese erreicht hatte, waren es nur noch wenige Minuten bis zu unserem Einfamilienhaus am Rande des Ortes.

Angestrengt schaute ich durch die Frontscheibe nach vorne, während der Wagen dicht am Mittelstreifen der Fahrbahn seinen Weg durch den immer dichter gewordenen Nebel suchte.

Ziemlich am Ende des Scheinwerferkegels im Übergang zur Nebelfront glaubte ich für einen Moment eine schemenhafte Gestalt gesehen zu haben, die etwas rot Leuchtendes in der Luft schwenkte. Ich konnte das Entdeckte zunächst nicht genau erkennen, aber nach und nach wurden die schemenhaften Umrisse  eines großen Menschen sichtbar, der einen langen Mantel trug und mit seinem rechten Arm eine rote Laterne hin und her bewegte.

Das musste eine Warnung sein, schoss es mir durch den Kopf. Vielleicht hatte es einen Unfall gegeben oder ein Reh war angefahren worden. Aber das würde ich ja gleich von dem im Nebel unheimlich wirkenden Wesen erfahren. Ich war Arzt und konnte mit meinem immer mitgeführten Notfallkoffer zumindest eine Erstversorgung von Verletzten leisten.

Ich hielt den Wagen, dessen Scheinwerfer die graue Nebelwand vergeblich zu durchdringen suchten, am Straßenrand an. Doch die Gestalt war wie vom Erdboden verschwunden.

Hatte sie sich im Nebel aufgelöst? Ich öffnete die Fahrertür und stieg aus. Plötzlich vernahm ich das Gurgeln und Tosen von Wasserstrudeln. Die Uecker konnte also nicht weit sein. Ich erinnerte mich an Zeitungsberichte, denen zu Folge heftige Regenfälle in den vergangen Tagen zum Anschwellen von Bächen und Flüssen geführt hatten.

Das musste der Grund dafür sein, dass auch der Pegel des Flüsschens Uecker angestiegen war und nun seine Wasserfracht mit Getöse bis zum Stettiner Haff transportierte.

Ich machte ein paar Schritte vorwärts. Der Nebel hatte sich in den vergangenen Minuten weiter gelichtet, nur einzelne milchig gefärbte Fetzen zogen noch über die Straße.

Wo war die Brücke? Ich konnte sie nicht erkennen. Vor mir sah ich nur die dunklen Wassermassen der Uecker, die zu einem breiten Fluss angeschwollen war. Ich spürte, wie meine Beine zu zittern begannen und mich ein heftiger Schwindel erfasste.

Die Straße vor mir endete im Nichts. Aus einem Mauerwerk, das wohl Teil eines Brückenpfeilers gewesen war, ragte ein seltsam gebogenen Stück Geländer in den Nachthimmel. Undeutlich erkannte ich einen weiteren Brückenpfeiler, der aber keinen Brückenbogen mehr trug. Das graue Wasser schob sich mit lärmendem Getöse an mir vorbei. Die Brücke musste es fortgerissen haben, fuhr es mir siedend heiß durch den Körper.

Nur langsam ebbten Beinschwäche und das Schwindelgefühl wieder ab.

Mir wurde klar, dass ich bei meiner Weiterfahrt mit dem Auto um ein Haar hier ins Wasser gestürzt und von den Fluten fortgespült worden wäre, wenn mich nicht diese geheimnisvolle Gestalt mit seinem roten Laternenlicht gewarnt hätte. Dieses Bild vor meinen Augen ließ mich einfach nicht los.

Ein Schutzengel musste mich vor dem Schlimmsten bewahrt haben. Aber wo war die Gestalt, die mich mit einem roten Laternenlicht vor dem Weiterfahren gewarnt hatte? Mühsam löste ich mich aus meinen Gedanken und rief mehrfach laut "Hallo, ist da jemand?". Doch nichts rührte sich. Meine Suche blieb vergeblich. Niemand war zu sehen oder antwortete auf mein Rufen.

Ich konnte mir das Verschwinden nicht erklären. Eine optische Täuschung meiner Sinne oder eine Illusion konnte ich ausschließen: zu deutlich war die mit der Laterne winkende Gestalt im Scheinwerferlicht zu erkennen gewesen.

Der Nebel hatte sich jetzt vollständig gelichtet. Ich stieg wieder in mein Fahrzeug und informierte über mein Smartphone die Polizei über die weg gerissene Brücke. Dann wendete ich, um auf der Hauptstrecke den Weg nach Haus zu nehmen.

Als ich am späten Abend die Haustür aufschloss und in die erstaunten und erfreuten Gesichter meiner Familie blickte, war all die Anspannung und der Schrecken über das Erlebte vergessen.

Es wurde ein schöner und harmonischer Weihnachtsabend, den ich in all den Jahren zuvor noch nie so intensiv wahrgenommen hatte.

Erst als wir die Kinder zu Bett gebracht hatten, erzählte ich meiner Frau mein Erlebnis. Wir beschlossen, am nächsten Tag einen Ausflug zu der Stelle zu machen, wo ich meinen Wagen wegen des Warnhinweises angehalten hatte.

Bald standen wir vor dem gurgelnden Wasserstrom, sahen auf die Reste der Brücke und fragten uns, wer mich da wohl gewarnt haben könnte. Aber wir konnten diese Frage nicht beantworten.

Später stellte ich Nachforschungen an, um herauszufinden, wer mich am Heiligabend vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Doch niemand konnte mir einen entscheidenden Hinweis geben.

Und so wurde diese schicksalshafte Begegnung mit meinem Schutzengel, der für mich zu einem Weihnachtsengel wurde, ein Bestandteil meines Lebens.

 

ENDE

22.11.2020

 


 

14. Dezember

 

Dagmar Weck

 

Der Weihnachtskaffee

 

Lisa und Anselm setzen sich an den gedeckten Kaffeetisch in ihrem Wohnzimmer. „Wir haben es doch gemütlich, Anselm, nicht wahr, lass es dir schmecken, ich habe für Weihnachten auch schon lange Plätzchen gebacken, neun Sorten,“ Lisa schaut ihren Anselm erwartungsvoll an.

Anselm nimmt sich von dem Gebäck, sieht Lisa an. „Warum siehst du mich so enttäuscht an, Lisa, du machst mir Angst?“ Er sieht den Weihnachtsbaum an, reichlich geschmückt steht er da: „Wir haben noch vier Wochen Zeit bis Weihnachten, Lisa, wann hast du denn die vielen Geschenke gekauft, sind es auch genug?“ Anselm schaut den Stapel der Weihnachtspäckchen an: „Es sind mindestens 70 Päckchen, Lisa, was ist geschehen?“ „Im Sommer habe ich sie besorgt, ich möchte uns ein perfektes Fest schenken, friedlich soll es sein, einige Geschenke sind für unsere Freunde, die Nachbarn, unsere Familie, die meisten Päckchen habe ich für uns gekauft.“ „Um dich mache ich mir Sorgen, Lisa, nein um uns beide. Wir können jetzt unsere Freunde nicht besuchen, auch nicht unsere Familie, wir wollen uns nicht gegenseitig anstecken.“

„Wir haben lange nicht mehr ehrlich miteinander geredet, Lisa.“

Sie schweigen in die Kekse hinein, der Baum erstrahlt in seinen goldenen und roten Kugeln und seinen gelben Lichtern, er lebt. Lisa und Anselm sitzen lange schweigend da. „Anselm, wer sind wir?“, Lisa löst die Stille, „ich habe mich nicht getraut, dir zu sagen, was ich bei uns vermisse.“

„Weihnachten ist das Fest der Liebe, wir haben uns unsere Liebe schon lange nicht mehr gesagt, haben wir sie noch, Anselm?“ Er nimmt Lisas Hand: „Ja, meine Liebe, wir sollten uns öfter zeigen, dass wir uns gern haben, das wünsche ich mir“, Lisa umarmt ihren Anselm. Er hält sie lange fest. „das werden wir tun, mein Schatz, ich dachte, du bist mich leid, ich meckere doch so oft.“ „Ich bin dir aus dem Weg gegangen und war oft in der Stadt, dort habe ich mich nicht so einsam gefühlt, lieber Gatte.“ „Dein Kaffee schmeckt gut, Lisa, deine Plätzchen auch, oh, was ist denn unter dem Tisch?“ Anselm schaut sich die Bescherung an.

Noch mehr Weihnachtspäckchen entdeckt er, er lächelt Lisa an: „Wir geben ganz viele Geschenke der Hilfe für Obdachlose.“ Lisa schmiegt sich an ihn, Weihnachten kann unbeschwert kommen.

 


 

13. Dezember

 

Maria Schneider

 

Da Stern zoagt noch Bethlehem

 

In an gaunz fernen Laund,

herrscht vor längerer Zeit

recht a herzlouser König

über rechtlouse Leut,

werdn vatriebm und vafulgt

san daunn Flüchtling sogoar,

dou die Hirtn am Föld

hörn an himmlischn Chor

und an Engl vakündn,

dass a Wunder goar gschiacht,

drauf gehn s´ lous über Nocht

ollwal grod, hin zan Liacht.

 

Mehr ols zwoatausnd Joahr

san seit daumols vorbei

und die Flüchtling am Weg,

kemman oll nou herbei,

wulln sou vüle zu uns

wal mir lebm jo im Liacht,

dou des Kindl im Stroh

heut fost koana mehr siacht

und as Feuer der Liab

is ba uns scha vagaungan,

mochn d´ Herzn oll zua,

koana wülls mehr empfaungan.

 

Seit des Wunder is gschehgn

in dem Bethlehem durt

is da Stern übern Stoll

goar am End längst scha fuart?

 

Liabes Jesukind hülf,

dass de Frog sih net stöllt

´s gibt jo sou vül zan tuan

nou auf unserer Wölt!

 


 

12. Dezember

 

Peter Veran

 

Angel’s Share

 

I.

 

Auch das kann

Wille. Ohren schneiden

Augen stechen. Lippen nähen

Strafe. Volks

Belustigung

 

Wir schulden nicht

Wir neiden nicht

 

Den Engeln dieser Welten

Destillerien schottischer Highlands

 

II.

 

Brutal neigt sich

Die Rinne. Stürzt hinab

Ins gleißende Nichts

 

Unter mir

Die Kante des Schis

Allein. Die rechte

Sprung. Die linke

Rauchend der Bruch

 

So what? Ha!

Angel’s share?

 

Not yet

 

 


 

11. Dezember

 

Friederike Krassnig

 

Winterwald

 

Versunkene Spuren im Schnee -

Tiefgang oberflächlicher Eindrücke,

kein Fehltritt gespielter Flucht-

Draufgängertum der Wildnis

im rehäugigen Gehege.

Und alles, alles versiegelt vom Eis

schneereichen Schweigens

unter Rauhreifranken

im Blitzlicht der Sonne.

 

 

 

 

 

 

 


 

10. Dezember

 

 

Barbara Klein

 

 

Weiß wohin das Auge sieht.


Zu Staub gewordene Zuckerrüben


legen sich zart um das


mit spitzen Fingern geformte Gebäck.


Lasst sie uns endlich auf der Zunge zergehen,


die Vanillekipferl.

 

 

 

 

 


 

9. Dezember

 

Ruth Barg

 

VERSCHOLLEN

 

Gebete

verstummen unaufgefordert

 

Empfindsamkeit

gnadenlos verpfändet

 

Sehnsüchte

ausgedorrt an uferlosen Weiten

 

Wünsche

in namenlose Gräber gelegt

 

Herzlasten

unausgelotet versenkt

im Niemandsland

 


 

8. Dezember

 

Sepp Maier

 

Mei Weihnochtswunsch

 

A jeda Mensch in Stodt und Lond

wünscht si vom Christkind ollahond.

Wos i ma wünsch´, wüll i enk sogn:

Z´erscht, dass si olli Leit vatrogn,

dass Friedn und Gerechtigkeit

übaroll herrschat, länderweit.

Dass koani Katastrophn kemman,

uns koani Wetta übaschwemman.

Den Menschn auf da gonzn Wölt

wünsch´ i, dass eah nia ´s Essn föhlt.

Dass d´Gsundheit holbwegs stimman mog

und oamol lochn jedn Tog,

des wa, sou hob i oamol ghört,

mehr wia des besti Pulverl wert.

Donn wünschat i zur Weihnochtszeit

holt nirgends auf da Wölt an Streit.

Olli sulltns freindli redn.

Und des olles wünsch´ i jedn.

 


 

7. Dezember

 

Gerti Kornberger

 

Erster Flockenfall

 

Ich mag die Stunden dieser

Dämmertage,

den Nachtgesang des Windes

unterm Dach.

Die trüben Straßenlampen

kreisen schwankend

und ausgelöschten Blicks

den Schritten nach,

die ihre Spur im ersten

Flockentanz

hinzeichnen auf den

lichten Flaum.

Ich mag das weiße Schweben

dieser Nächte,

geschenkt aus eines

Engels Hand.

 


 

6. Dezember

 

Josef Graßmugg

 

Einkaufserlebnis

 

Als Martina vom Kindergarten nach Hause kam, hatte sie kaum Zeit, ihrer Mutter zu erzählen, was sie an diesem Tag schon alles erlebt hatte. Sie musste sich mit dem Essen beeilen, weil sie gemeinsam mit der Mutter in die Stadt fahren wollte, um einzukaufen. Da sie diesmal auf das sonst übliche herumtrödeln verzichtete, waren sie bereits am frühen Nachmittag unterwegs.

Zunächst gingen sie in ein Geschäft, in dem es vor allem Lebensmittel zu kaufen gab. Das kam Martina sehr gelegen. Sie rechnete nämlich damit, dass ihre Mutter irgendwelche Naschereien kaufen würde, von denen es dann gleich eine Kostprobe gäbe.

Als sie zum Regal mit den Süßigkeiten kamen, war Martina sehr erstaunt: "Mama, warum stehen hier so viele Schokokrampuse und Nikoläuse? Kann man die kaufen?"

Der Mutter blieb wenig Zeit, sich eine passende Antwort zu überlegen.

"Nein, mein Kind. Alles, was in diesem Regal steht, kann nur vom Nikolaus gekauft werden. Er schenkt es dann weiter an die braven Kinder."

"Ach so." Martina war mit dieser Erklärung zufrieden. Obwohl sie natürlich gerne einen Nikolaus oder Krampus in den Einkaufswagen gelegt hätte. Aber was sollte man machen, wenn das nur der Nikolaus durfte?

Während die Mutter versuchte, alle Lebensmittel, die sie sich notiert hatte, zu finden, interessierte sich Martina für das vorhandene Angebot an Spielzeug.

Ob sie Mama den Vorschlag machen sollte, eine Puppe zu kaufen?

Plötzlich erschrak sie.

Was machte der Mann an diesem Regal? Er hatte sich doch tatsächlich einen Nikolaus in seinen Einkaufswagen gelegt. Jetzt griff er auch noch nach einem Krampus!

Martina wurde nervös. Dieser Mann – er hatte einen Bart. Es war noch kein richtig weißer Bart, aber er könnte in den nächsten Tagen ja noch weiß werden.

Die Kleidung dieses Mannes, der inzwischen noch einen Nikolo in seinen Wagen gelegt hatte, verriet nicht wer er war. Sogar ihr Papa hatte eine ähnliche Jacke. Aber er konnte sich ja umziehen...

Martina gelang es kaum noch, sich ruhig zu verhalten. Was sollte sie jetzt nur machen? Die Mama rufen?

Nein, wer weiß, ob Erwachsene den Nikolaus überhaupt sehen können.

Aber sie, sie sah ihn...

Niemanden sonst im Geschäft war er aufgefallen. Das Mädchen blickte ihm nach, bis er mit seinem Einkaufswagen, den er am Nikolausregal angefüllt hatte, hinter einer Säule verschwand.

Martina beschloss, ihr Geheimnis für sich zu behalten.

Im Laufe des restlichen Nachmittages fiel der Mutter auf, dass ihr Kind immer wieder vom Nikolaus sprach.

 


 

5. Dezember

 

Barbara Klein

 

Gefangen bist du im Blumentopf,
festgefroren in dem Rund aus Ton.
Abgefangen vom gelblich-roten Laub
der Pflanze,
die dereinst prachtvoll
in den blauen Sommerhimmel wuchs.

 

 


 

4. Dezember

 

Tasso J. Martens 2013

 

münchner advent I 

 

mein auge windet sich entgegen

dem strom fremder blicke

es reibt sich an einem grienenden ketchupmond

auf mandelbrot in goldlakritz verpackt

an mein ohr schrillen quengelnde kinderärmchen

greifen nach schmalzgebackenen tönen

nur erinnerungstaubheit in meinen gehörgängen

dimmt die qual gegen den strich

eine gruppe verharrender füße in stiefeln

hochhakigen pumps

mit glühweintassen an rotgeränderten wangen

signalisieren dem gehirn meine unpassende nüchternheit

hemmen den freien lauf meiner fröstelnden schritte

zwei frauengesichter in nerz und silberflittriger erwartung im haar

schleppen einen toten baum vom platz

mein männlicher instinkt notiert

das aufreizende lächeln der weißblauen kugeln

schmutzige finger strecken sich meiner hand entgegen

und leere schritte folgen dem einkaufswagen

über den giebeln der stern seiner ferne beraubt

singt fremdes lamettageklingel vom rathaussöller

gebratener duft nach heiligen äpfeln vom rost

überschiemelt die botschaft

 


 

3. Dezember

 

Manfred F. Kolb

 

kriege, terror, tod -

elend, seuchen, hungersnot :

was tun wir dagegen?

der weihnachtliche segen –

kann er in uns erstrahlen,

wo menschen leiden qualen?

 

wie soll uns friede werden

auf dieser heillos‘ erden?

 


 

2. Dezember

 

Richard Mösslinger

 

Ganz still und hoamlih

 

Ganz still und hoamlih is’s gschehgn in der Nacht,

sölm hat a Jungfrau oan Buabm zu uns bracht.

In aner Krippm auf Stroh is er glegn,

hat in der Stund schon in Friedn da(r)sehgn.

 

Hirtn sand kemman von fern und von nah,

’s Büabl zan ehrn, zwegns dem warn sie da.

D’ Engl im Himml habn gsungan ganz leis’

grad von dem Wunder in himmlischer Weis’.

 

’s Büabl im Kripperl schaut unschuldi’ drein,

fragt mit die Äugerl: „Wird Friedn bald sein?

Sehgts, ih va(r)hoaß enk den Friedn auf Er(d)n,

müassts nur a wengerl varnünftiger wer(d)n!“

 

Stille, du liabliche, halige Nacht,

d’ hast den Erlöser uns oanstns va(r)macht.

Gib, dass der Friedn, den er uns va(r)kündt,

uns all mit’nander ah iadn Tag findt!

 


 

1. Dezember

 

Josef Graßmugg

 

Warum?

 

Er kommt vom Spaziergang zurück.

Diese Mistelzweige über der Haustür,

die lebenslange Liebe versprechen,

wenn man sich darunter küsst.

Warum?

Sie hielten beide an Traditionen fest.

Wie oft hatten sie sich hier geküsst?

Wie oft waren sie abends durch die Siedlung spaziert?

Erst vor wenigen Tagen.

Die Vorfreude auf das Fest war spürbar, war sichtbar.

All die Weihnachtsbeleuchtungen gaben Zeugnis davon.

Zuhause der Tee,

mit Kletzenbrot,

selbst gebacken.

Diese Abende,

sie waren harmonisch, unendlich harmonisch.

Beide waren bereit,

für das Fest der Liebe.

Dann dieser Tag, diese Nacht.

Am Heimweg von der Weihnachtsfeier.

Seine Frau war mit einem Kollegen unterwegs.

Einem Nachbarn.

Er wohnte nur ein paar Häuser von ihnen entfernt.

Natürlich war Alkohol im Spiel.

Nicht beim Arbeitskollegen.

Aber beim Unfallgegner.

Sie war sofort tot.

Sagte man ihm.

Warum?

Die Sache mit den Mistelzweigen,

sie stimmt.

Sie hatten sich geliebt.

Bis ans Lebensende.

Er öffnet die Tür.

Von der Kirche die Turmbläser,

er hört sie nicht.




18. 11. 2021 - BIER - Lesung

"Vom BIERbrauen in KAPFENBERG ...damals & heute"  -  so lautete der Titel der Ausstellung im KUlturZentrum Kapfenberg.

"Biersommelier trifft LITERATURkreis" -  so lautete der Titel einer der Rahmenprogramm-Veranstaltungen.

Bei dieser Veranstaltung wurden Texte der Literaturkreismitglieder Bans Bäck, Adelheid Daschek, Josef Graßmugg, Barbara Klein und Wolfgang Mayer-König gehört...

...und Bierproben von "Tom & Harry Brewing" getrunken.




22. 09. 2021 - Kinderbuchlesung

 

Erfolgreiche Lesung von Adelheid Daschek im ECE - Kapfenberg

                            

        "Obersteirische Rundschau", Ausgabe 22./23.09.2021                                         "WOCHE - Bruck an der Mur", Ausgabe 22./23.09.2021




15. 09. 2021 - Interview

Wolfgang Mayer König beleuchtet im Gespräch mit Dieter Scherr die aktuelle Situation der Schreibenden, der literarischen Vereinigungen und der aktuellen Schaffenssituation.

(Nachzulesen in der "Autor·inn·ensolidarität" Ausgabe 2-3/21)

 





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